Was in Fukushima wirklich geschah

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Am 11. März 2011 tötete ein Tsunami in Japan mindestens 16.000 Menschen und löste eine Atomkatastrophe aus. Rekonstruktion eines oft falsch dargestellten Unglücks.

Es hat im Meer östlich von Japan schon über einige Tage mehrfach heftig gebebt. Das tut es hier oft, man kümmerte sich nicht darum.

Am 11. März 2011, um 14.46 Uhr und 23 Sekunden (6.46 Uhr MEZ), schiebt sich die Pazifische Platte in 32 km Tiefe und 130 km Entfernung von der Küstenstadt Sendai jäh bis zu 27 Meter nach Westen, unter die Ochotsk-Platte, auf der Nordjapan liegt. Die Erdkruste reißt auf 400 km Länge bis zu 60 km tief auf, die freigesetzte Energie entspricht 780.000 Hiroshima-Bomben. Das Beben der Stärke 9, ein stärkeres ward in Japan noch nie gemessen, jagt eine Schockwelle durch das Wasser. Und dann kommt das Meer an Land.

Eine hunderte Kilometer lange Zone wird von großteils zehn Metern hohen Wellen getroffen, die teils zehn Kilometer ins Land rollen. Zum AKW Fukushima I nahe am Strand kommt das Meer um 15.35 Uhr: Es ist 13 bis 15 Meter hoch, der Damm 5,70 Meter. Die drei aktiven Reaktoren (drei andere werden gewartet) haben sich nach dem Beben automatisch abgeschaltet. Nun sind sie unter Wasser, Steuersysteme und elf der zwölf Notstrommotoren fallen aus, und damit die Kühlung der Reaktoren, die auch abgeschaltet vor sich hin glühen.

Albtraum im März

Die nächsten Tage sind ein Albtraum. Die Reaktoren werden heiß, dazu eine Wanne für Brennstäbe in Reaktor 4. Wasser verdampft, man lässt Druck ab, so entweicht radioaktiver Dampf, dennoch zerreißen Knallgasexplosionen die Reaktorhäuser. Aus Feuerwehrautos und Helikoptern wird Wasser gespritzt, es reicht nicht, die Reaktoren sind so heiß, dass sie 250 Tonnen Wasser am Tag verdampfen lassen. Irgendwann schmilzt in ihnen der Uranbrennstoff, das tut er ab etwa 2800°C, schweißt sich durch die Druckbehälter aus Stahl und inneren Betonhüllen: Kernschmelze.

Als am 14. März Reaktorhaus 3 platzt, will der Betreiber Tepco die Ruine aufgeben. Ein Wutanfall von Premier Naoto Kan bringt die Manager zur Räson. Mit viel Improvisation werden bis Mitte April die Systeme reaktiviert und Kernzerfallsprozesse eingedämmt. Zehntausende Tonnen verseuchtes Wasser rinnen ins Meer, bis Filter ab Juni das Abwasser reinigen; dafür fallen Unmengen radioaktiven Schlamms an. Seit Herbst 2011 liegt die Temperatur der Reaktoren, die für Menschen auf Jahrzehnte unzugänglich sind, bei gut 70 Grad. Sie gelten als stabil – falls die Kühlung nicht länger als 18 Stunden ausfällt.

Fast alles fiel ins Meer

Die ausgetretene Strahlung wird mit einem Fünftel jener angegeben, die 1986 aus dem AKW Tschernobyl entwichen ist. Laut einer norwegisch-österreichischen Studie war es mehr: Die Menge des Isotops Cäsium-137 (Halbwertszeit ca. 30 Jahre) lag demnach bei 36 Peta-Becquerel (Billiarden bzw. 1015), 40% der Cäsiummenge aus Tschernobyl. 80% der Emissionen fielen in den Pazifik, verteilten sich aber so, dass sie, abgesehen vom Meer vor Fukushima, ungefährlich sind. 18% fielen auf Japan, bis Österreich kam praktisch nichts.

Ein Umkreis von 20 km um Fukushima ist bis heute evakuiert, da lebten 80.000 Menschen, sie mussten gehen, da die Strahlenbelastung höher als 20 bis 50 Millisievert pro Jahr war; der Strahlenhintergrund in Japan ist im Mittel 0,4 Millisievert/Jahr. Gesundheitliche Folgen sind indes nicht sichtbar: Die 15.844 Toten und 3430 Vermissten gehen aufs Konto des Tsunami; die drei Toten und zwei Dutzend Verletzten im AKW waren Folge von Unfällen oder Infarkten, und selbst verstrahlte Arbeiter gesundeten.

Später wurde das Chaos im Krisenmanagement Tepcos und der Regierung bekannt. Beide misstrauten einander, und: „Nicht nur Geräte, sondern System und Organisation waren unvorbereitet. Alle, die Verantwortung trugen, machten schwere Fehler“, sagte der mittlerweile abgetretene Premier Kan. Er hatte die logistisch unvorstellbare Evakuierung des Raums Tokio erwogen: in extremo ein Abmarsch von 45 Millionen Menschen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2012)

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