Marinaleda: Das Dorf, das den Sozialismus verwirklichte

Marinaleda Dorf Sozialismus verwirklichte
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Häuser für 15 Euro im Monat, Vollbeschäftigung: Ein Bürgermeister in Andalusien hat seine Utopie in die Tat umgesetzt. Nur mit dem Pluralismus nimmt er es in realsozialistischer Tradition nicht ganz so genau.

Er ist überall. Wie eine bärtige Mona Lisa mit Palästinensertuch lächelt er Passanten von Fassaden und Mülltonnen entgegen. Aufdringliche Reklame gibt es hier sonst nicht, stattdessen sprechen mit dicken Pinseln bemalte Hausmauern von „Frieden, Brot und Arbeit“ oder fordern auf, den Fernseher ab- und das Gehirn einzuschalten. Der väterliche Blick des allgegenwärtigen Mannes verfolgt die Vorbeigehenden. Wie die echte Mona Lisa im Louvre, die einen immer im Auge behält, egal, ob man links oder rechts von ihr steht.

Die Mittagssonne vertreibt die kalte Morgenluft aus den Straßen, die von braunen platt gefahrenen Orangen übersät sind. Ein weißer Wagen rollt vorbei, mit riesigen Lautsprechern, aus denen eine verzerrte weibliche Stimme wie ein Mantra wiederholt: „Morgen wird in der Fabrik gearbeitet.“ Das also ist der Ort, an dem es keinen einzigen Arbeitslosen geben soll, der Traum vom Eigenheim mit 15 Euro im Monat wahr wird und die Sozialdemokraten den rechten Rand des politischen Spektrums bilden.

Das allgegenwärtige Gesicht auf den Postern gehört Juan Manuel Sánchez Gordillo. Er ist seit mehr als 30 Jahren Bürgermeister in Marinaleda, einem 2800-Seelen-Dorf in Andalusien. „Die autonome Republik Marinaleda“, wie das aufmüpfige Dorf in den Nachbarorten belustigt genannt wird, ist der Schreck der Großgrundbesitzer.

„Was willst Du?“, fragt Sánchez Gordillo barsch, während Che Guevara herzhaft von der Wand lacht. Nicht nur wegen der langen Amtszeit und des Barts denkt man bei Gordillo eher an Fidel Castro. „Ich bin Antikapitalist, Öko, Pazifist und Utopist“, stellt er sich vor. Marinaleda ist seine wahr gewordene Utopie. Seit er 1979 bei der ersten demokratischen Wahl nach dem Ende der Franco-Diktatur zum Bürgermeister gewählt wurde, hat er den Ort seinem Traum von einer idealen Gesellschaft nähergebracht. Trotz Krise, trotz Rekordarbeitslosenrate im Land – in Marinaleda herrscht Vollbeschäftigung. „Wir investieren, statt zu kürzen wie die Regierung“, erklärt Gordillo.


Aufs Feld statt in die Schule. Hauptarbeitgeber ist die landwirtschaftliche Genossenschaft El Humoso. Auf 1200 Hektar werden Oliven, Artischocken, Paprika und Saubohnen angebaut. Die Ernte wird in der im Dorf angesiedelten Dosenfabrik weiterverarbeitet. Dolores Tejadas arbeitet seit zwölf Jahren hier, also seit es die Fabrik gibt. Gemütlich wackeln Artischocken über das Fließband, die Bee Gees füllen die Halle mit guter Laune. Früher, also bevor Gordillo den „proceso“, den Revolutionsprozess, in Gang gesetzt hatte, war sie wie die Mehrheit im Dorf Tagelöhnerin. Das bedeutete harte Arbeit während der Erntezeit von September bis Jänner – und Arbeitslosigkeit für den Rest des Jahres. Bis in die 1980er-Jahre hinein war Hunger nicht unüblich in Marinaleda, und es gab Kinder, die aufs Feld arbeiten gingen statt zur Schule.

Die Geschichte der Genossenschaft ist fester Bestandteil der Dorfidentität und der Stolz der Bewohner. Zwölf Sommer lang besetzten sie die Finca eines adeligen Franco-Getreuen. Sie blockierten Straßen, legten Schienen oder Landebahnen lahm. Marinaleda machte sich in ganz Spanien einen Namen. Es war ein langer und harter Kampf. Und keiner wusste, ob die Menschen Erfolg haben würden. Doch die erniedrigenden Knüppelschläge der Guardia Civil konnten den Willen der Tagelöhner nicht brechen. 1991, kurz vor der Eröffnung der Expo 1992 in Sevilla, gaben die Politiker nach. Andalusien kaufte dem Herzog das Land ab und überließ Marinaleda die Nutzung.


Arbeitskraft statt Maschinen. Der Süden Spaniens ist bis heute geprägt von Latifundien. Diese Agro-Unternehmen setzen auf Maschinen statt auf Arbeitskraft. Das Ziel der Genossenschaft hingegen ist es, Arbeitsplätze zu schaffen. Laut Bürgermeister Gordillo verdient jeder der rund 350 Beschäftigten das Gleiche: 1200 Euro – egal, ob Arbeiterin am Fließband, Arbeiter auf dem Feld oder Sekretärin. Oder Bürgermeister. „Alles, was ich darüber hinaus verdiene, spende ich an die Gemeinde oder an NGOs“, sagt Gordillo, der für die „Vereinigte Linke“ auch im andalusischen Regionalparlament sitzt.

Wie und wofür das Geld der Gemeinde ausgegeben wird, darüber entscheiden die Bürger basisdemokratisch in Versammlungen. Mehr als 50 sogenannte asambleas finden jährlich statt, bei denen die Bürger über alles abstimmen – etwa welche Arbeiten am „Roten Sonntag“ ausgeführt werden, an dem Freiwillige öffentliche Plätze instand halten, oder wer in die 15-Euro-Häuser einziehen darf.

Diese Häuser ziehen besonders seit der Immobilienkrise viel Aufmerksamkeit auf sich. Derzeit gibt es 350 davon. Das Rezept ist simpel: Die Gemeinde stellt das Grundstück sowie den Architekten gratis zur Verfügung, ein andalusisches Zuschussprogramm finanziert das Baumaterial. Das Einzige, was die künftigen Bewohner leisten müssen, ist die eigene Arbeitskraft. Dolores und ihre Familie gehörten 1985 zu den Ersten. Ihre Hypothek belief sich auf 50.000 Euro. Mit einer Monatsrate von 15 Euro wird ihr Haus 2262 abbezahlt sein. Utopisch? Das Haus solle nur weitervererbt, nicht aber verkauft werden, um Spekulation zu unterbinden, sagt Gordillo. „Wohnen ist ein Menschenrecht und keine Ware, mit der Handel betrieben werden kann.“ Die geplatzte Immobilienblase hat außerhalb von Marinaleda zu einem rasanten Anstieg der Delogierungen geführt.


Der Tankwart widerspricht. Eine Genossenschaft, Wohnhäuser für 15 Euro im Monat und direkte Demokratie sind also die Pfeiler dieser linken Utopie.

Direkte Demokratie? Darüber kann Hipolito Aires nur den Kopf schütteln. „Die Dorfversammlung ist eine Lüge, niemand traut sich, dem Bürgermeister zu widersprechen“, sagt der Tankwart. Der Mittvierziger mit glänzender Glatze und dickem Oberlippenbart sitzt in einer spartanisch eingerichteten Kassenbude, an der Wand ein überdimensionales Holzkreuz. Der Bürgermeister kontrolliere alles, sagt Aires. „Er entscheidet, wer in der Genossenschaft arbeiten darf. Damit kauft er sich Stimmen.“ Aires ist Funktionär der örtlichen Sozialdemokraten, der einzigen Opposition hier. Ihre Anhänger würde man hier als Faschisten beschimpfen, sagt er. Von der konservativen Partido Popular hat sich zuletzt 1995 ein Politiker ins linke Epizentrum Marinaleda gewagt. Zuerst wurden Javier Arenas und seine Delegation von einem menschenleeren Dorf empfangen. In der Bar verweigerte man der Gruppe den Zutritt. Erst als Arenas beschloss, zurück nach Sevilla zu fahren, seien plötzlich alle Bewohner auf der Straße aufgetaucht und hätten die Gruppe als „Faschisten, Hurensöhne und Arschlöcher“ beschimpft.

Bisher gewann Gordillo jede Wahl mit absoluter Mehrheit. Félix Talego, Professor für politische Anthropologie an der Universität Sevilla, gibt Aires teilweise recht: Während seiner 16-monatigen Feldforschung Anfang der 1990er stellte er fest, dass Gordillo am Ende immer seinen Willen durchsetzt. Zweifler und Kritiker würden an den Pranger gestellt, als Schwächlinge oder Verräter gebrandmarkt. Entweder sie ordnen sich unter, oder sie haben nichts mehr in der Versammlung verloren. Nach Veröffentlichung seiner Dissertation wurde auch Talego von Sánchez Gordillo zur Persona non grata erklärt.

Doch nicht nur Vorwürfe undemokratischer Praktiken werfen Schatten auf Gordillos Utopie. Die aktuelle Krise nagt ebenfalls am linken Paradies. Die Einnahmen der Gemeinde seien um 45 Prozent zurückgegangen, räumt Gordillo ein. Außerdem muss die Region Andalusien ihre leeren Kassen auffüllen und will dafür Immobilien verkaufen. El Humoso steht auch auf der Liste, doch der Bürgermeister von Marinaleda zeigt sich kompromisslos. „Wir verhandeln mit der andalusischen Regierung und haben klargemacht, dass wir das Terrain nicht kaufen wollen. Wir wollen es nur nutzen.“ Sollte die andalusische Regierung das Land verkaufen, droht Gordillo mit Aktionen wie in den Achtzigerjahren. In Sevilla macht das Eindruck.

Es ist schon dunkel, als Dolores die Fabrik verlässt, aber der Tag ist für sie noch nicht vorbei. Ihre grüne Schürze hat sie gegen Jeans und Pullover eingetauscht. Sie trifft sich mit drei anderen Aktivisten im Gewerkschaftssaal, um Plakate für eine Kampagne zu kleben. Trotz acht Stunden in der Fabrik ist sie voller Energie und scherzt mit den compañeros. Gordillos Utopie ist auch das: viel Arbeit in der Freizeit. Denn eines weiß hier jeder: Engagement für die Sache des Bürgermeisters ist entscheidend, wenn man in den Genuss der Vorzüge des Modells Marinaleda kommen will.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2012)

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