Wien 2014: Plötzlich Weltstadt

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THEMENBILD: DC TOWER IN WIEN(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Wien ist gewachsen – aber viele Wiener haben das lang nicht bemerkt. Dabei hat sich mit der Größe der Stadt in den vergangenen 25 Jahren auch ihr Charakter geändert.

Wien ist eine Weltstadt. Das ist ein Satz, den viele Wiener ohne Ironie kaum über die Lippen bringen, es sei denn, sie arbeiten in der Tourismusbranche. Denn die Wiener sind zwar Meister der Nabelschau, aber so richtig ernst nehmen sie ihre Heimatstadt nicht. Wie alles, was aus dem kleinen Österreich kommt.

Und so haben viele nicht bemerkt, dass Wien inzwischen auch nach internationalen Maßstäben – asiatische einmal ausgenommen – zu einer echten Großstadt geworden ist. Einer von vielen freilich: Denn war früher der Begriff „Metropole“ für Paris oder London reserviert, ist die Liste interessanter Städte inzwischen lang: Prag, Tel Aviv, Barcelona etc. Das ist auch kein Wunder, schließlich leben wir „im Zeitalter der Städte“. Die Hälfte der Weltbevölkerung wohnt in Ballungsräumen, bis 2050 sollen es drei Viertel sein.

Schneller. Dabei sah es einmal ganz anders aus: 1987 lebten in Wien gerade einmal 1,48 Millionen, ein historischer Tiefstand. Man sprach von „schrumpfenden Städten“. „Wien stirbt“, hieß es damals sogar in Vorarlberg. Vielleicht hat sich das derart im Kopf festgesetzt, dass man lang den Umschwung übersehen hat – trotz des „Brückenkopf Wien“-Mantras, das mit der EU-Osterweiterung 2004 eingesetzt hat. Derzeit leben in Wien 1,8 Millionen Menschen. Allein in den vergangenen 14 Jahren wuchs Wien um 250.000 Bewohner, etwa so viele Menschen, wie in Graz leben. Wien ist nach Berlin die zweitgrößte deutschsprachige Stadt und gehört zu den am stärksten wachsenden Städten der EU (hinter Brüssel, Stockholm und Madrid). Das macht etwas mit der Stadt, mit ihrem Charakter. Nur was genau?

Das Große zeigt sich dabei oft in Kleinigkeiten. Zum Beispiel: Man ist nur mehr selten überrascht. Andere Hautfarbe, andere Sprache, andere Kopfbedeckung fallen etwa nicht mehr auf. Wenn einer in der U-Bahn hinschaut, muss es schon eine Ganzkörperverschleierung sein. Etwa die Hälfte der Wiener Bevölkerung hat inzwischen Migrationshintergrund, sprich jeder zweite Wiener wurde im Ausland geboren – oder zumindest ein Elternteil. Was auffällt, sind die vielen jungen Deutschen. Der bundesdeutsche Akzent gehört inzwischen zum Sound des Schottentors (Uni Wien) wie das Quietschen der Straßenbahn im Jonas-Reindl.

Vielleicht ist es auch den anscheinend immer gut gelaunten jungen Deutschen zu verdanken, dass sich das Temperament der Stadt verändert hat. Natürlich ist Wien tendenziell noch immer grantig. Aber: Die Grenze zwischen Wiener Grant und Hauptstadt-Arroganz ist verschwommen. Wien hat es einfach eiliger als früher, die Menschen gehen rascher (sofern sie nicht auf ihr Smartphone schauen), wirken beschäftigt und trinken ihren Kaffee nicht mehr im Stehen, sondern im Gehen. Das Tempo hat sich erhöht. Damit liegt Wien im Trend: Die durchschnittliche globale Gehgeschwindigkeit in Städten ist merkbar gestiegen: 1994 brauchte man für 20 Meter 13,76 Sekunden, 2007 nur mehr 12,49.

Enger. Schneller voran kommt man trotzdem nicht immer. Das subjektive Empfinden, dass man mehr im Stau steht oder es sich in der U-Bahn drängt, täuscht nicht. Nehmen wir das Beispiel öffentlicher Verkehr: Rund 900 Millionen Fahrgäste verzeichneten die Wiener Linien 2013, im Jahr 1994 waren es 669 Millionen. Nun ist zwar das Netz der Wiener Linien stark gewachsen, vor allem in der Peripherie. Im innerstädtischen Bereich stieg dagegen vor allem die Auslastung. Rund ein Drittel der Fahrgäste der Wiener Linien sind auf nur fünf Linien unterwegs – U6, U3, 6, 43 und 13A. Auch auf den Fahrradwegen fährt man oft dicht an dicht: 2002 wurden zwei Prozent aller Wege in Wien per Fahrrad zurückgelegt, 2012 waren es 6,3 Prozent. Schätzungsweise gibt es eine Million Fahrräder in der Stadt. Verkehr ist inzwischen auch das kommunalpolitische Thema mit dem höchsten Erregungspotenzial – Stichwort: Mariahilfer Straße. Mit der Regierungsbeteiligung der Grünen ist die Wahl des Verkehrsmittels auch zu einer Frage des Lebensstils, der Moral geworden: Rad fahren ist sozusagen das Mülltrennen von heute.

Teurer. Ein anderes Thema, über das die Wiener viel reden, ist das Wohnen: Früher haben nur Erasmus-Studenten Gruselgeschichten über teure Mieten in London erzählt, inzwischen ist auch in Wien die Suche nach einer leistbaren Wohnung ein Nebenjob. Nicht nur für Studenten, auch für die Mittelschicht. Zwar leben etwa zwei Drittel der Wiener im geförderten Wohnbau (der letzte echte Gemeindebau wurde vor zehn Jahren in Liesing errichtet), was lange Zeit auch den Druck vom privaten Mietpreisniveau genommen hat. Aber mit der wachsenden Stadt sind trotzdem die Mietpreise auf dem privaten Markt kräftig angestiegen. Wer neu nach Wien zieht, kann sich entscheiden: teuer mieten, teuer kaufen – oder lang warten.

Vielleicht weil das eigene Heim nicht immer den Wünschen entspricht, ist das Leben in Wien auch (wieder) öffentlicher geworden. Ähnlich wie im Süden Europas ist der öffentliche Raum zum zweiten Wohnzimmer geworden. So richtig gemerkt hat man es 2001 mit der Eröffnung des Museumsquartiers und dem kollektiven Enzi-Probesitzen. Begonnen hat es aber schon früher: mit dem Siegeszug des Schanigartens. Josef Bitzinger, Spartenobmann Freizeit und Tourismus der Wiener Wirtschaftskammer, erinnert sich noch: „Als in den 70ern die Kärntner Straße zur Fußgängerzone wurde, ist der damalige Bezirksvorsteher von einem Lokal zum anderen gegangen und hat die Betreiber gebeten, einen Schanigarten zu machen. Er hat genau drei Betriebe gefunden.“

Heute muss man niemanden bitten, draußen ein paar Tische aufzustellen. Im Gegenteil: Man diskutiert über Winterschanigärten und Heizpilze. Auch inhaltlich hat sich die Gastronomie stark verändert: an der Spitze (Steirereck und Co.) wie auch in der Breite: Von veganen Cup-Cake-Cafés über vietnamesische Bistros bis zum Wirtshaus, das sich auf Innereien spezialisiert hat, reicht das Repertoire. Partymäßig war Wien allerdings schon einmal spannender – zum Beispiel vor zehn, zwanzig Jahren: Nach U4 und Flex brachten die Neunziger damals die Clubbings und neues Leben in die alten Stadtbahnbögen. In anderen Ecken der Stadt fand man sich zum „Raven“ ein. 2002 hakte sich dann die gelebte Subkultur als Fluc am Praterstern fest, während im Wiener City-Untergrund die schicke Babenberger Passage (weißes Leder!) in Betrieb ging.

Parallel dazu machte sich auch der Wanderclub Wurstsalon auf die Reise. In der zweiten Hälfte der Nullerjahre wurde Wien dann endgültig ein bisschen Berlin: Club Planetarium, Pratersauna, der Donaukanal (Bars, Badeschiff, Grelle Forelle) dehnten die Nächte. Mit den Zehnerjahren – die Krocha von 2008 lassen wir einfach aus – kamen dann zum Ärger der baldigen Ex-Bezirksvorsteherin der Innenstadt, Ursula Stenzel (ÖVP), die Verlängerung der Sperrstunde auf sechs Uhr, die Nacht-U-Bahn, aber eben auch das Clubsterben von Roxy, Cabaret Renz, Morisson, Ost Klub, Take Five. Den kürzesten Auftritt hatte das Jessas im Werk X. Es sperrte schon vor der Eröffnung wieder zu. Viele mittelgroße Lokale sind verschwunden. Veranstalter müssen daher auf „safe spielen, wenn sie etwas verdienen wollen“, sagt DJ Gabbi Werner. Sprich: Man macht, was funktioniert.

Sicherer. Apropos sicher und Nacht: Heuer gibt es mit bisher neun Morden in Wien vermutlich einen historischen Tiefstand. Generell gab es in den 70er- und 80er-Jahren doppelt bis dreifach so viele Morde in Wien wie in jüngster Zeit: 41 Morde waren es 1975, im Jahr 2010 gab es 18. Allerdings steigen andere Gewaltdelikte. Die (Einbruchs-)Diebstähle sind wieder gesunken, die Jahre 2003 und 2004 sind aber im Gedächtnis geblieben. Damals stiegen die Zahlen massiv. Ein Grund war laut Polizei die Visumfreiheit für Rumänen und Bulgaren, die 2002 in Kraft trat.

Sauberer. Wobei die Stadt den Nachbarn auch gern und zu Recht den Teppich ausrollt: In der City, wo man inzwischen fast alle Geschäfte findet, die man früher nur aus dem Urlaub kannte, sichert die russische Kundschaft vielen Shops das Überleben. Auch sonst ist Wien beliebt: In Mercers „Quality of Living“-Ranking von 223 Großstädten belegt Wien seit fünf Jahren Platz eins, was die Stadtregierung regelmäßig zu Jubelmeldungen veranlasst. Zur Lebensqualität für Familien gehört dabei, dass die Stadt (spät, aber intensiv) auf die zunehmende Berufstätigkeit der Frauen reagiert: So wird die Ganztagsbetreuung in Schulen seit einigen Jahren forciert, pünktlich vor den Gemeinderatswahlen 2005 wurde der Gratiskindergarten eingeführt. Und was man an dieser Stelle auch erwähnen muss: Der Hundekot wird inzwischen in Sackerln entsorgt. Wie gesagt, man merkt das Große oft am Kleinen. kb/win/mpm/eko/stu/sh/ks/uw

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2014)

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