Historiker Wolffsohn: "Polarisierung, Gewalt und Gegengewalt werden zunehmen"

Sieht die Demokratie in Gefahr, vor allem durch Populisten, die dem Volk nach dem Mund reden und sie in den Abgrund führen würden: Michael Wolffsohn.
Sieht die Demokratie in Gefahr, vor allem durch Populisten, die dem Volk nach dem Mund reden und sie in den Abgrund führen würden: Michael Wolffsohn.(c) imago/Future Image (Thomas Bartilla)
  • Drucken

In einer Gesellschaft könne es keinen normativen Zusammenhalt geben, sagt der deutsche Historiker und Publizist Michael Wolffsohn im Interview: "Sehr wohl kann und muss es aber einen funktionalen Zusammenhalt geben. Der basiert auf Regeln. Wie im Straßenverkehr."

Die Presse: Wie definieren Sie Zusammenhalt in einer Gesellschaft?

Michael Wolffsohn: Wer glaubt, es gäbe in einer Gesellschaft einen normativen Zusammenhalt, irrt – oder glaubt an die Möglichkeit dauerhafter Manipulation. Gesellschaft ist an sich vielschichtig, und weil sie vielschichtig ist, kann es keinen eindeutigen normativen Zusammenhalt geben. Sehr wohl kann und muss es aber einen funktionalen Zusammenhalt geben. Der basiert auf Regeln. Wie im Straßenverkehr.

Dann lassen Sie es mich anders formulieren: Was unterscheidet eine Gesellschaft von einer solidarischen Gesellschaft?

Die Solidarität einer solidarischen Gesellschaft hält selten lang oder gar dauerhaft. Wandel ist die Konstante einer jeden Gesellschaft. Wäre es anders, sprächen wir nicht über Menschen, sondern über Maschinen. Ein Regelwerk ist jedoch unverzichtbar. Wie im Straßenverkehr so im gesellschaftlichen Leben. Sonst wären Chaos und Faustrecht die Regel.

Sind besonders multikulturell geprägte Gesellschaften stärker gefährdet, ihren Zusammenhalt zu verlieren?

Je mehr „multi“ desto schwieriger der Zusammenhalt. Aber jede Gesellschaft war, ist und wird „multi“ sein. Mal mehr, mal weniger. In jeder Gesellschaft gibt es nicht nur eine, also „die“ Kultur, sondern mehrere Teil- bzw. Sub-Kulturen. Und leider ist auch das Menschlichkeitseis der Kultur so dünn, dass man oft einbricht. Nicht nur das Dritte Reich liefert Anschauungsunterricht. Deutschland war auch damals keine Dschungel-Kultur, und es wurde in Windeseile eine Dschungel-Zivilisation. Viele sogenannte Dichter und Denker, nicht zuletzt hochgebildete Professoren, waren Hitlers willige Helfer. Deutsche Professoren waren die ersten „Märzgefallenen“, also Umfaller, Profiteure und Mitmacher. So viel zum Stichwort Bildung und Menschlichkeit.

Ist ein gesellschaftlicher Schmelztiegel eine Illusion?

Ja, davon müssen wir uns lösen und die plurale Gesellschaft, also Vielschichtigkeit, als Faktum anerkennen. Wenn und solange das funktionale und rechtliche Regelwerk eingehalten wird, ist das kreativ und ungefährlich.

Welche Ereignisse und Entwicklungen sind typische Beispiele dafür, den Zusammenhalt zu erschüttern?

Kein allgemeiner Konsens, immer mehr Gewalt, teils Terror und Gegengewalt sowie Gegenterror als Mittel der Politik. Auch verbale Gewalt.

Welche Folgen wird die Integration der Asylwerber auf den Zusammenhalt haben?

Polarisierung, Gewalt und Gegengewalt, physisch und auch verbal, werden zunehmen.

Und dann?

Wenn Integration gelingt, gibt es keine Probleme. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre. Nicht nur der Islam hat, seine Lehre wortwörtlich nehmend, ein Gewaltproblem. Doch Judentum und Christentum haben es überwunden.

Das heißt, der Islam ist die größte Herausforderung?

Das kommt – bei allen Religionen – darauf an, wie man sie versteht oder verstehen will. Der Anspruch der Religionen ist friedlich, ihre historische Wirklichkeit eben nicht. Ausnahme: das Judentum in seinen staatenlosen Epochen.

Welche generellen Werte helfen dabei, den Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu fördern?

Life, Liberty and the Pursuit of Happiness. Ich nenne das aber lieber Vorgaben bzw. Rahmenbedingungen, weil es keinen Wertekonsens geben kann. Jene Dreiheit verzichtet auf Phrasen und definiert pragmatisch, was nötig ist.

Ist die Demokratie derzeit grundsätzlich in Gefahr?

Demokratie ist immer in Gefahr. Besonders durch Demagogie. Das kann man schon an der antiken athenischen Demokratie erkennen. Den Demagogen von damals entsprechen die Populisten von heute. Sie reden dem Volk, Populus, zu Munde. Tatsächlich sind sie Verführer und führen in den Abgrund.

Gibt es etwas, das Ihnen persönlich Sorgen bereitet?

Langfristig die Zunahme des islamischen Terrors und die terroristische Reaktion der Neuen Rechten, also eine Variante des Bürgerkriegs.

AUF EINEN BLICK

Podiumsdiskussion in Wien. Am Dienstag, 19. Juni, diskutiert ab 18.30 Uhr Michael Wolffsohn mit „Presse“-Chefredakteur und -Herausgeber Rainer Nowak im Leopold-Museum über Kultur, Identität und aktuelle Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Podiumsdiskussionen in Graz und Klagenfurt. Zwei weitere, vom Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) veranstaltete Diskussionen, finden am kommenden Donnerstag, 21. Juni, in Graz (Kunsthaus, 19 Uhr) und am Freitag, 22. Juni, in Klagenfurt (Konzerthaus, 19 Uhr) statt. Die deutsche Frauenrechtlerin und Imamin Seyran Ateş spricht über Gleichberechtigung, Identität und die Integration von Musliminnen in Europa.

Anmeldungen:www.integrationsfonds.at/veranstaltungen

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.