Mittelalterfund: „Sensation“ für Archäologen

Diese Stein-Holzkonstruktion, die offenbar vor Hochwasser schützen sollte, stammt wie die Leder- und Werkzeugfunde aus dem Spätmittelalter.
Diese Stein-Holzkonstruktion, die offenbar vor Hochwasser schützen sollte, stammt wie die Leder- und Werkzeugfunde aus dem Spätmittelalter. (c) Mirjam Reither
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In der Werdertorgasse wurde eine Uferbefestigung entdeckt, die das mittelalterliche Wien vor Hochwasser schützen sollte. Dank der regen Bau- (und damit Grabungs)-Tätigkeit öffnen sich nun viele Fenster ins alte Wien.

Wien. Da, wo man nun im Matsch, neun Meter unter dem Straßenniveau steht, war einst eine Promenade. Hinter der Mauer, deren jahrhundertealte Holz- und Stein-Reste entdeckt wurden, war ein Altarm der Donau, an der Promenade waren wohl Werkstätten von Schustern oder Gerbern. Hier, wo eine Baugrube ausgehoben wurde, um eine Tiefgarage (und darüber Luxuswohnungen, wir schreiben Wien im Jahre 2019) zu bauen, öffnet sich eine neue Welt. Beziehungsweise eine alte Welt, das mittelalterliche Wien, wie man es von Karten und Plänen kennt.

Bei den Arbeiten in der Werdertorgasse 6 in der Innenstadt ist der Stadtarchäologie ein Fund gelungen, wie es ihn lange nicht gab: Eine „Sensation“, sagen die Archäologen. Diese Sensation ist vor allem eine im feuchten Erdreich unter vielen Schichten gut erhaltene Holz-Stein-Konstruktion. Diese Uferanlage sollte einst vor Wasser schützen. Schließlich floss hier, in einem längst verlandeten bzw. regulierten Gebiet rund 250 Meter vom Donaukanal, dem letzten Rest der alten Wasserläufe, ein Altarm der Donau. Und so war das Areal im Bereich der Vorstadtsiedlung im „Oberen Werd“, die bis ins 16. Jahrhundert bestand, stets hochwassergefährdet.

Reges Leben einer Donauinsel

Die nun ausgegrabenen Bauten sollten da schützen. Die Holzbalken und Steine zeigen gut die Struktur der Befestigung, obwohl auf dem Grund später die Neutorbastion, also ein Teil der Stadtmauer, errichtet wurde, wie Projektleiterin und Archäologin Ingrid Mader erklärt. Wie es im Spätmittelalter hier ungefähr ausgesehen haben muss, wusste man, nun aber kann die Lage des Wassers genauer verortet werden, der Altarm verlief offenbar anders, als bisher angenommen. Und, an diesem Wasser, einer Art Halbinsel in der Donau, muss sich reges Leben abgespielt haben. Offenbar wurde das Ufer von lederverarbeitenden Handwerkern genutzt. Sie dürften den Uferstreifen auch als Mülldeponie genutzt haben – was heute ein Glücksfall für die Archäologen ist.

So wurden mittlerweile 30 Kisten voll Alltagsutensilien geborgen: Etwa ein scharfes Eisenmesser, eine Schere, ein bestens erhaltener Holzlöffel, jede Menge Keramikteile und Lederwaren. Lederfunde sind in Wien äußerst rar, nun füllen die Lederteile Säcke. Eines der am besten erhaltenen Stücke ist ein mittelalterlicher Schnabelschuh, vermutlich aus dem 14./15. Jahrhundert. Oder diverse Kuriositäten: Ein Armbrustbolzen, eine spätrömische Münze (die wurde vermutlich angeschwemmt, sonst gab es keine Funde aus der Römerzeit), oder Kerne, die eine Archäologin im Matsch kniend verliest. Sie schlägt Brocken mit einer Kelle aus dem Boden, klaubt die Erdklumpen auseinander, sortiert Kerne in Säckchen. Vor allem sind es Weintraubenkerne, vermutlich gibt es die Sorte nicht mehr, auch ein Pfirsichkern ist darunter. Sie zeigen, dass hier, am Ufer, vermutlich einst Maische entsorgt wurde.

(c) Mirjam Reither

Fund als Puzzle-Stein

Für Archäologen sind diese Funde aus dem Alltagsleben ein Schatz, und mit ihnen fügt sich ein weiterer Stein ins Puzzle der Stadtgeschichte. Dass hier etwas Interessantes vergraben ist, war lange klar, und so wurde schon bei der Planung des Baus die Stadtarchäologie beigezogen. Als man im April auf das alte Holz stieß, war klar, dass hier Großes verborgen war. Seither – und laut Plan noch bis Ende Juli – arbeiten hier Archäologen. Wie es heißt Hand in Hand mit den Bauarbeitern, die am an der Straße liegenden Gebäudeteil weiter werken, um keine zu lange Verzögerung entstehen zu lassen.

Die Funde gehen nach den Analysen der Archäologen in den Bestand des Wien Museums über. Ein Teil, etwa Holz, das an der Luft schwer zu konservieren wäre, wird beim Bau wieder verschüttet. Einige Funde sollen später im Foyer des Apartmenthauses „Werder Six“, das hier entsteht, zu sehen sein. Die Fundgrube selbst wird wohl in wenigen Wochen, wenn der Tiefgaragenbau weitergeht, zugeschüttet und verbaut. Denn weiter gegraben, als die Baufirma das vor hatte, wird von der Wiener Stadtarchäologie prinzipiell nicht.

„Das Erdreich ist der beste Tresor“, sagt Archäologin Mader. Irgendwann, sagt sie, könnten künftige Generationen von Archäologen mit vielleicht schon viel besserer Technologie hier weiterarbeiten und weitere Puzzle-Steine der Stadtgeschichte finden.

Fundstelle wird zugeschüttet

„Natürlich blutet uns als Archäologen das Herz, wenn so etwas geschlossen wird“, sagt Mader. Aber schließlich müsse gebaut werden, die Stadt lebt, man könne sie nicht umgraben und unter einen Glassturz stellen. Und für die Archäologen gibt es derzeit ohnehin genug zu tun. Erst im Mai wurden im Bereich Bognergasse/Naglergasse ebenfalls in der Innenstadt römische Tor-Reste gefunden. „Die Lager sind mehr als voll“, sagt Mader. Angesichts der regen Bautätigkeit wird auch viel archäologisch Interessantes gefunden. Wenngleich Sensationen wie diese rar sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2019)

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