Integration: Wie ein Quilt das Überleben sichert

So profitieren beide Seiten. Eine bosnische Frau bestickt die Quilts, die Entwürfe stammen aus Bregenz.
So profitieren beide Seiten. Eine bosnische Frau bestickt die Quilts, die Entwürfe stammen aus Bregenz. (c) Daniel Lienhard, Bregenz/Rorschach
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In Vorarlberg nähte eine Künstlerin mit bosnischen Flüchtlingsfrauen Mitte der 90er-Jahre Quilts. Bis heute können elf Frauen, zurück in der Heimat, davon leben.

Ein Maitag 1993: Lucia Lienhard-Giesinger packt die Skizzen in einen Umschlag, die wachskreidenbunten Quadrate auf feines Istanbuler Papier gemalt. Die Vorarlberger Künstlerin setzt sich ins Auto und fährt die 30 Kilometer von Altach nach Nenzing. Dort steht an der Bundesstraße die Kaserne, die im Zuge der Flüchtlingswelle aus Bosnien und Herzegowina zum Flüchtlingsheim Galina umgebaut wurde.

Im Fernsehen berichteten die Nachrichten seit Ausbruch des Krieges 1992 immer wieder von den Kämpfen in Bosnien, der Unterstützungsaufruf für das „Nachbar in Not“-Hilfsprogramm war omnipräsent. Lienhard-Giesinger will sich engagieren, doch im letzten Moment überkommt sie Nervosität. „Was, wenn keiner mitmachen will?“, denkt sie sich, als sie den Zündschlüssel umdreht. Wenn die Idee mit den Quilts nicht ankommt?

Ihre Zweifel – das weiß sie inzwischen – waren unbegründet. Die Skizzen von einst sichern elf Frauen in Bosnien das Überleben – bis heute. Denn nach diesen Skizzen werden nach wie vor angelsächsische Quilts in gedeckten Farben – verwendbar als Wandschmuck oder als Tagesdecke − produziert. Die Frauen besticken sie dann mit Ziernähten.

Die Hintergrundmuster entwirft Lienhard-Giesinger selbst. Der Quilt entsteht in kreativer Arbeitsteilung – schon damals im Flüchtlingsheim, heute zum einen in Bregenz und zum anderen im bosnischen Goražde am Drina-Fluss.„Das Quilten hat mir das Leben gerettet“, sagt Safira Hošo, eine der bosnischen Frauen, heute. Im Flüchtlingsheim mussten die Menschen die Tage irgendwie hinter sich bringen. Die Regierung in Wien hatte für die Balkanflüchtlinge einen Sonderstatus geschaffen: den „de facto“-Flüchtling, der temporären Schutz genießt, ohne ein individuelles Asylverfahren zu durchlaufen, bis einer Person die Heimat wieder zugemutet werden kann. Zugang zum Arbeitsmarkt hatten die Menschen nicht. Es herrschte Langweile. Für die 30 Frauen im Heim brachte die die Quiltwerkstatt Abwechslung, Tratsch und ein kleines Taschengeld. Das Nähen, die Bewegung, Nadel hinauf, Nadel hinunter, half beim Verdrängen. „Und ohne das Verdrängen geht es manchmal nicht“, sagt Lienhard-Giesinger.

80 Quilts im Jahr

Die Künstlerin steht im Ausstellungsraum der „Bosna Quilts“ in Bregenz und kocht Kaffee. Ergrauter Pagenkopf, blaue, wache Augen. 80 Quilts verkauft sie im Jahr – nach Wien und Zürich, nach Göteborg und Nowosibirsk. Die Nachfrage ist stabil. 1997, als sich die Frauen im Heim auf die Rückreise vorbereiteten, pochte Safira Hošo darauf, das Projekt nicht auslaufen zu lassen.„Ich wollte unbedingt weitermachen“, erzählt sie. Nicht die Nähmaschine, sondern ein Faxgerät packt sie ein, bevor sie nach vier Jahren das Heim Galina verlässt und sich auf den Weg nach Goražde macht.

Sie würde dafür sorgen, dass das Projekt nicht an der geografischen Entfernung scheitert. Und dass der Neuanfang zuhause durch das Projekt gelingt. In einer Stadt, die auf ein Drittel der ursprünglichen Einwohner geschrumpft ist, die voller zerstörter Häuser ist, in denen fremde Gesichter wohnen. Arbeitsplätze gibt es nicht: „Die Quilts waren meine einzige Chance.“ Safira Hošo trommelt elf Frauen zusammen und verteilt Stoffe und Fäden für die Entwürfe, die Lucia Lienhard-Giesinger weiter aus Vorarlberg schickt. An Sada, die aus dem Küchenfenster auf den Friedhof schaut. An Vesna, die sie noch aus der Galina kennt. An Emina und viele mehr.

Rund 200 Euro verdienen die Frauen in Goražde im Monat mit dem Quilten. Der große Vorteil: Das Geld kommt regelmäßig, in einem Land, wo Fabriken oft monatelang keine Löhne zahlen. Den Anfang in Bosnien haben eine Liechtensteiner Stiftung, das Land Vorarlberg und der Bund unterstützt. „Wenn du nicht weitermachst, werde ich verrückt“, drohte Hošo vor ihrer Abreise nach Goražde noch Lienhard-Giesinger. Heute sagt sie: „Meine Seele ist zufrieden.“ Seit mehr als 22 Jahren läuft das Projekt nun. Gemeinsam sind sie älter geworden, die Frauen in Goražde und Lucia Lienhard-Giesinger in Vorarlberg, und sie sind zusammen gewachsen. Nachfolger haben sie keine bestimmt: „Mit uns wird es irgendwann ein Ende haben“, sagt die Künstlerin. Bis dahin wird sie aber weiter Quilts in die Welt verschicken.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2015)

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