Kommentar: So deutsch war Österreich

(c) (Clemens Fabry)
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Überlegungen zum einstigen Anschluss-Trauma von EU-Parlamentarier Andreas Mölzer.

Als „Wiedervereinigung" wurde der Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland in den Tagen des großdeutschen Freudentaumels immer wieder bezeichnet. Das, was als Folge des Krieges von 1866, als der Deutsche Bund (!) gegen Preußen militärisch unterlag, getrennt wurde, nämlich die deutschen Erblande der Habsburger Monarchie vom übrigen Deutschland, wäre nun wiedervereint worden, „heim ins Reich" geholt, vom Innviertler Adolf H. Eine Wiedervereinigung, die von den Entente-Mächten 1918/19 völkerrechtswidrig verweigert wurde. Eine Wiedervereinigung, an derer Sinnhaftigkeit mit wechselnder Intensität mehr oder weniger alle politischen Kräfte der Ersten Republik geglaubt hatten und an deren historischer Berechtigung bei aller Ablehnung des Nationalsozialismus in den Tagen des Anschlusses selbst kaum jemand zweifelte.

Das was den Demokraten in der sich gerade konstituierenden Weimarer Republik und in der jungen Republik Deutsch-Österreich im Jahre 1918 und 1919 von den Siegermächten ganz gegen das Postulat des US-Präsident Woodrow Wilson vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker" verweigert wurde, vollzog nun der Autokrat Adolf H. ohne viel Federlesens. Während man unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg unter der demokratischen deutschen Tricolore Schwarz-Rot-Gold, den Farben der Urburschenschaft, die gesamtdeutsche Einheit schaffen wollte, wurde sie 1938 unter dem Hakenkreuzbanner erzwungen. „Die Republik Deutsch-Österreich ist ein Teil der deutschen Republik", hatten die Gründer der Republik schlicht wie hintersinnig erklärt.

Franz Dinghofer, der deutschnationale Präsident der konstituierenden Nationalversammlung, aber auch die Sozialdemokraten unter Karl Renner und die Christlich-Sozialen waren für dieses neue demokratisch-republikanische Gesamt-Deutschland. Besonders die Sozialdemokraten., wäre es doch die Eingliederung in ein damals sozialdemokratisch geführtes Deutsches Reich unter Ebert und Scheidemann gewesen. Und die große alte sozialistische Partei Deutschlands, die Schöpfung eines Ferdinand Lassalle und eines August Bebel, war für die österreichischen Austromarxisten bereits damals das beeindruckende und viel gepriesene Vorbild. Kein Wunder also, dass der österreichische Delegierte bei der Weimarer Nationalversammlung, der Sozialdemokrat Ludo Hartmann, Spross eines 1848-Revolutionärs, es war, der die Einführung der Farben Schwarz-Rot-Gold als neue Staatsfarben vorschlug. Jene Farben die bei der Ausrufung der Republik in der Wiener Herrengasse in den letzten Oktobertagen 1918 das Straßenbild dominierten.

Kein Wunder auch, dass das Deutschland-Lied von Hoffmann von Fallersleben im Zuge der sozialdemokratischen Arbeiterbildung gepflegt und geschätzt wurde. Ein Lied, das zwanzig Jahre später, gekoppelt an die Parteihymne mit den Lobpreisungen des Berliner Corpsstudenten und SA-Führers Horst Wessel, der übrigens auch ein Semester in Wien studiert hatte, im Takt des Marschtritts der Wehrmachtstiefel auch in Österreich euphorisch gesungen werden sollte.

Ob nun die Österreicher Deutsche wären, das war in der Ersten Republik keine Frage. Diese Republik Deutsch-Österreich, die sich auf Druck der Entente-Mächte dann „Republik Österreich" nennen musste, empfand sich stets als zweiter Deutscher Staat, während des austrofaschistischen Ständestaats sogar als der „bessere deutsche Staat". Allenfalls politische Sekten im Randbereich, monarchistische Legitimsten und die marginalisierte kommunistische Partei, träumten vom „Homo Austriacus". Insbesondere die Sozialdemokratie war ebenso wie das deutsch-freiheitliche Lager von einem geradezu militanten Großdeutschtum durchdrungen.

Deshalb wunderte es auch kaum jemanden, dass Karl Renner im Frühjahr 1938 sein Ja für die Volksabstimmung zum Anschluss durchaus propagandawirksam für das neue NS-Regime bekräftigte. Und es war auch kein Wunder, dass Otto Bauer aus dem Exil verkündete, er sei nicht für die „reaktionäre Parole der Wiederherstellung Österreichs, sondern für die gesamtdeutsche Revolution".

Hintergründe und Ablauf des Anschlusses vom März 1938 sind hinreichend geklärt und ausgiebigst diskutiert. 70 Jahre danach kann man behaupten, dass so etwas wie eine Historisierung dieses Anschlusses stattgefunden hat. Das strafrechtliche Faktum der „Anschluss-Propaganda", mit dem man deutschbewusste Kräfte in Österreich nach 1945 zu stigmatisieren versuchte, ist spätestens seit dem EU-Beitritt Österreichs, durch den wir ja mit Deutschland in einem supranationalen Staatsverband sind, obsolet geworden. Und die Frage, ob die Österreicher des beginnenden 21. Jahrhunderts nun Deutsche seien, oder Angehörige einer eigenen Nation, stößt zunehmend auf emotionsloses Unverständnis.

Kein Wunder, angesichts der multikulturellen Gesellschaft, die die Existenz des deutschen Volks insgesamt relativiert. Kein Wunder auch angesichts der nivellierenden Tendenzen der allgemeinen Europäisierung. Geradezu skurril dabei ist allerdings, das jene Kräfte, die nach 1945 die „österreichische Nation" zum politischen Dogma erhoben haben, in unseren Tagen zuerst bereit sind, diese „österreichische Nation" gegenüber der multi-kulturellen Gesellschaft und der nivellierenden Europäisierung preiszugeben.

Für die heute Jungen ist die Erste Republik so fern, wie der Vormärz oder die josephinische Zeit. Weitgehend emotionslose Beschäftigung mit Fragen, wie etwa jener des Anschlusses von 1938 ist daher möglich geworden. Die Erkenntnis, dass damals mit diesem Anschluss der Traum vieler Österreicher, vielleicht der meisten, wahr geworden sein dürfte, ist nicht von der Hand zu weisen. Das Wissen, dass das Land, das bereits seit 1934 antidemokratisch und autoritär geführt wurde, damit einem totalitären Gewalt-System ausgeliefert wurde, ist genauso klar und unbestreitbar.

Als Nachgeborene kennen wir den Weg, den das Land im Rahmen des Großdeutschen Reiches und in der Folge ganz Europa beschreiten musste: den Weg in den Zweiten Weltkrieg, in die Massenvernichtung politischer Gegner und „rassisch Minderwertiger" und in die flächendeckende Zerstörung durch den Bombenkrieg.

Allein die Zeitgenossen konnten dies allenfalls voraus ahnen. Die Euphorie am Heldenplatz im Frühjahr 1938 sah nur das nun nahezu vollständig geeinte deutsche Volk, die Erfüllung des Traums von 1848 und 1918 und war beseelt von der Hoffnung, das nun die Zeit für „Brot und Arbeit" anbräche und die Zeit für Gerechtigkeit für die Deutschen, die sich keineswegs zu Unrecht durch die Pariser Vorortverträge als Parias der Völkergemeinschaft fühlen mussten.

Interessant ist allerdings, wie rasch die Desillusionierung einsetzte nach dieser Euphorie. Ernüchterung selbst bei den alten illegalen österreichischen Nationalsozialisten und überdies die Ernüchterung in den breiten, ursprünglich gesamtdeutsch eingestellten Bevölkerungsschichten. Eine Ernüchterung die dazu führte, dass im Zuge der Attentatsvorbereitungen vom Juli 1944 Berliner Emissäre in Kreisen des österreichischen Widerstands keinerlei Bereitschaft mehr für einen gemeinsamen Weg in großdeutschen Rahmen vorfanden. Es mag an der allzu geringen Sensibilität der Berliner Dienststellen, an der Schnoddrigkeit der „Piefkes" gelegen sein, wohl aber auch an der Radikalität der staatsrechtlichen Auslöschung Österreichs.

Der Braunauer war bekanntlich durch den euphorischen Empfang zur völligen und radikalen Einverleibung Österreichs motiviert worden. Alle Überlegungen, das Land doch als eigene politische Einheit, etwa wie Bayern, in das Großdeutsche Reich aufzunehmen, wurden beiseite geschoben, der Name Österreich wurde staatsrechtlich getilgt. Und die ruhmreiche Geschichte Österreichs, gerade im Rahmen des alten Römischen Reichs Deutscher Nation, zum historischen Irrweg erklärt. Das alte großdeutsche Lager, das in jenen Kategorien dachte, wie sie im Opus Magnum des Historikers Heinrich Ritter von Srbik „Die deutsche Einheit" niedergeschrieben waren, wurden damit vor den Kopf gestoßen. Und die österreichischen Durchschnitts-Nationalsozialisten hatten ohnedies das Gefühl: „Sei's in Quarten, sei's in Quinten, wir sind beschissen von vorn bis hinten".

Dass dieser Anschluss mit oder durch den Einmarsch der Wehrmacht vollzogen wurde, erwies sich für das Nachkriegs-Österreich als Glücksfall. Der Versuch, sich in der Rolle des „ersten Opfers des Nationalsozialismus" bequem zu machen, konnte nur gelingen, wenn man sich auch als Opfer militärischer Gewalt hinzustellen vermochte. In Wahrheit war dieser Anschluss natürlich eine Kombination aus Staatstreich, Volksaufstand - etwa in Graz, der „Stadt der Volkserhebung" - diplomatischer Pression aus Berlin und militärischer Annexion durch die Wehrmacht.

Die danach zur Legitimierung dieses Anschlusses durchgeführte Volksabstimmung mag nun unter politischem Druck, unter teilweise fragwürdigen Umständen durchgeführt worden sein. Kaum bestritten allerdings kann auch heute werden, dass sie so oder so auch unter völlig demokratischen Umständen eine satte Mehrheit für den Anschluss erbracht hätte. Dass 1945 zweifellos eine ebenso satte Mehrheit der Österreicher für die Wiedererrichtung der Eigenstaatlichkeit gestimmt hätte, steht auch außer Zweifel. Und man kann dies nicht einmal dem Opportunismus der Österreicher zuschreiben, die nach einem katastrophal verlorenen Krieg die Flucht aus der gemeinsamen deutschen Verantwortung suchten. Wenn Karl Renner, der Altmeister der rot-weiß-roten Sozialdemokratie und Kardinal Innitzer, der höchste Kirchenfürst des Landes, sich vor den Propaganda-Karren für die Anschluss-Volksabstimmung spannen ließen, warum hätten dann die Durchschnitts-Österreicher, die sich ohnedies als Deutsche empfanden und über alle Parteigrenzen hinweg ohnedies über Generationen vom gesamtdeutschen Volkstaat geträumt hatten, diesen Anschluss verweigern sollen. In den Frühjahrstagen 1938 vermochten eben nur wenige kritische Geister sich vorzustellen, in welche Katastrophen das NS-geführte Großdeutschland dieses nunmehr geeinte Volk führen sollte.

Der März 1938 brachte zweifellos das Ende der österreichischen Selbstständigkeit, das Ende der österreichischen Freiheit hat er nicht gebracht. Diese wurde schon im Jahre 1934 beendet. Die Drangsalierung von Regimegegnern, die Verfolgung der Opfer der Nürnberger Rassegesetze und die schrittweise Austilgung jedweder humanitärer Gesinnung waren zweifellos eine schreckliche Folge dieses Anschlusses. Wenn man aber den Österreichern heute vorwirft, sie seien allzu leichtfertig und in allzu großer Mehrheit in den Totalitarismus gegangen, dann übersieht man, dass die Demokratie damals in den 30-er Jahren ganz allgemein wenig galt. Das christlich-konservative Lager hatte bekanntlich den Weg hin zum autoritären austrofaschistischen Ständestaat beschritten und das Parlament ausgeschaltet. Aber auch die Sozialdemokratie hatte in der Zwischenkriegszeit mehr oder weniger intensiv von der „Diktatur des Proletariats" geträumt und mehr oder weniger offen die Revolution propagiert. Auch in diesem Bereich waren Demokratie und Parlamentarismus minder geachtete Systeme. Was Wunder, dass den meisten Österreichern die Demokratieverachtung des NS-Führerstaats durchaus akzeptabel erschien.

Und was den Antisemitismus betraf, war auch dieser ein gesamt-gesellschaftlich bis zu einem gewissen Grad akzeptiertes Phänomen. Im christlich-sozialen Bereich war man schon aufgrund der katholischen Tradition latent antisemitisch eingestellt. Jene Kreise die zu Beginn der 30-er Jahre den „Korneuburger Eid" schworen - unter ihnen bekanntlich Julius Raab, die spätere Ikone der jungen Zweiten Republik - standen dem illegalen Nationalsozialisten in Hinblick auf den Antisemitismus in Nichts nach. Und sogar in der Sozialdemokratie gab es Beschlüsse, den Anteil von Juden in der Parteiführung einzuschränken, da dieser den austromarxistisch orientierten Genossen offenbar allzu groß erschien. Dass der nationalsozialistische Antisemitismus über die gesellschaftliche Ausgrenzung und die staatsbürgerliche Entrechtung hin zur Massenvernichtung führen sollte, wollte man in breiten Kreisen der Bevölkerung im Jahre 1938 offenbar nicht wissen.

Zweifellos waren die Tage des Anschlusses im März 1938 einer der Momente in der Geschichte Österreichs im 20. Jahrhunderts, in denen größte Euphorie spürbar war. Sie gehören aber umgekehrt zu jenen Momenten, die das größte Unheil über das Land und seine Menschen brachten. Der Kriegsbeginn 1914 mit seiner chauvinistischen Begeisterung, der Anschluss 1938 mit seinem gesamtdeutschen Taumel, der Staatsvertrag 1955 mit seiner hoffnungsvollen Erleichterung über den Abzug der Sowjets, das sind wohl die Augenblicke der größten Euphorie in der jüngeren österreichischen Geschichte gewesen. Und sowohl 1914 als auch 1938 haben grenzenloses Leid über Österreich gebracht. Heute ist all dies Geschichte. Und die politischen Akteure der seinerzeitigen Ereignisse sind samt und sonders längst abgetreten. Auch Zeitzeugen, die das Geschehen bewusst miterlebten, gibt es kaum noch. Immer schwieriger wird es auch, aus den historischen Tragödien dieser Tage politisches oder ökonomisches Kapital zu schlagen. Gottlob.

Zur Person

Andreas Mölzer wurde am 2. Dezember 1952 in Leoben geboren. Nach seiner Matura studierte er in Graz zuerst Rechtswissenschaften, wechselte aber nach zwei Jahren zu Geschichte und Volkskunde. Zusätzlich war er in der schlagenden Studentenverbindung Corps Vandalia aktiv.

Während der neunziger Jahre entwickelte sich Mölzer zum Chefideologen der FPÖ, für die er seit 2004 im EU-Parlament sitzt. Er bezeichnet sich selbst als "nationalliberalen Kulturdeutschen".


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