Aktivistin: "In fünf bis zehn Jahren ist es so weit"

Alexejewa fuenf zehn Jahren
Alexejewa fuenf zehn Jahren(c) AP (MISHA JAPARIDZE)
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Dieser Tage wurde Russlands führende Menschenrechtsaktivistin Ljudmila Alexejewa 85. Ein Gespräch über Jugend, Panik und die Lüge.

Wie ist das, wenn man von Präsident Putin, der gerade repressive Gesetze erlässt und dessen Menschenrechtsrat Sie neulich aus Protest verlassen haben, ein Geburtstagsschreiben erhält?

Ljudmila Alexejewa: Wenn du den Ehemann aussuchst, so muss er dir gefallen. Bei der Arbeit aber musst du mit jenen vorliebnehmen, mit denen du zu tun kriegst. Und dann erhältst du eben auch Glückwünsche. Er hat das aufgrund seiner Präsidentenverpflichtungen gemacht.

Ist es Ihnen unangenehm?

Geht so.

Hätten Sie sich vorstellen können, dass man NGOs im 21. Jahrhundert – so wie neulich in Russland vorgeschrieben – wegen internationaler Finanzhilfen zwingen will, sich als „ausländische Agenten“ zu deklarieren?

Nein. Ist ja wirklich ein origineller Einfall. Meine Mitstreiter und ich haben immer nur unsere Bürger vor dem eigenen Staat und seinen Beamten geschützt. Was hat da ein ausländischer Staat damit zu tun?

Sie haben den Zweiten Weltkrieg durchlebt, später die sowjetische Repression. Man könnte meinen, dass Ihnen das Putin-Regime nicht so dramatisch vorkommen müsste.

Tut es ja auch nicht. Was sich die Sowjetherrscher leisten konnten, können sich die jetzigen Machthaber nicht mehr erlauben.

Aber repressive Gesetze werden im Eiltempo verabschiedet.

Die Zunahme der Proteste und das fallende Rating Putins und seiner Partei rufen oben eine gewisse Hysterie und Panik hervor. Sie haben mich gefragt, ob mir bange ist. Mir nicht, aber denen da oben. Das steht außer Zweifel und ist allen klar.

Mit 85 Jahren gehen Sie immer noch Risken ein, wenn Sie etwa an Demonstrationen teilnehmen. Woher die Energie?

Nun, man wird mich nicht mehr festnehmen. Denn ich würde am nächsten Tag sterben, und das würde ihnen Unannehmlichkeiten bereiten. Ich kann Arbeit von Privatleben nicht trennen. Ich lebe diese Tätigkeit. Ich möchte arbeitend sterben. Wozu soll man sonst leben? Zur Einnahme von Medikamenten?

Hat das Alter neben vielen Nachteilen auch Vorteile?

Der Organismus bereitet in der Tat kein Vergnügen mehr. Aber ich bin sehr froh über mein Alter. So kann ich sehen, dass in Russland eine neue Generation aufgetaucht ist, die bereits nach dem Ende der Sowjetunion geboren wurde. Ich bin völlig überzeugt, dass sie Russland zu einem demokratischen Rechtsstaat machen wird. In fünf bis zehn Jahren ist es so weit.

Warum sind Sie so überzeugt?

Weil zum ersten Mal in unserer Geschichte eine Zivilgesellschaft zutage tritt. Und weil wir in einer globalisierten Welt leben. Unsere Jugend hat die Welt gesehen, spricht nicht nur Russisch. Sieht praktisch kein russisches Fernsehen, weil sie weiß, dass dort nur offizielle Lüge abläuft. Bezieht ihre Nachrichten aus dem Internet.

Gewöhnlich sagen ältere Leute, die Jugend sei verkommen und alles werde schlechter.

Würde das stimmen, wäre die Menschheit längst ausgestorben. Die Leute erinnern sich einfach mit Vergnügen an ihre eigene Jugend. Mir aber gefallen die jungen Leute.

Sie sind berühmt für Ihre Prinzipientreue. Halten daher auch Sie die Realpolitik des Westens, die der russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow so kritisiert, für inakzeptabel?

Ich habe Kowaljow sehr gern. Ich verstehe seinen Unmut, aber ich teile ihn nicht, denn ich denke, dass jedes Land seine Geschichte hat. Und wir müssen sie selbst machen. Wenn uns der Westen dabei hilft, haben wir großen Dank dafür. Wenn nicht, werden wir es selbst tun. Warum soll der Westen nur an uns denken und nicht auch an ein normales Leben im eigenen Land? Wir kümmern uns auch mehr um Russland als um Länder wie Weißrussland oder Turkmenistan, wo es schwieriger ist als bei uns.

Sie waren im Menschenrechtsrat des Präsidenten. Wie kommunizierten Sie mit den Machthabern?

Meine Großmutter, die mich aufgezogen hat, weil meine Mutter als Mathematikerin viel arbeitete, sagte immer: „Wenn ein Mensch mit dir freundlich spricht, musst du ihm auch freundlich antworten. Wenn er aber schimpft, antworte überhaupt nicht. Denn selbst auch zu schimpfen ist unwürdig.“ Daran halte ich mich im Internet, aber auch im Umgang mit der Staatsführung. Ich sage ihnen alles, was ich über sie denke. Aber in einer korrekten Form: „Herr Präsident, in diesem Fall verletzen Sie die Verfassung, obwohl Sie auf diese geschworen haben, sie einzuhalten.“

Und wie reagiert man?

Sie senken die Augen, denn sie wissen, dass ich die Wahrheit sage. Die sind ja nicht dumm.


Hat man im Kreml einen Begriff von Kompromiss?

Medwedjew hat ihn ein wenig. Putin überhaupt nicht. Er kann das nicht, er müsste es lernen.


Als Sie in der Sowjetunion verfolgt wurden, war ja auch Ihre Familie bedroht. Wie lösten Sie diesen inneren Konflikt?

Es gelang irgendwie. Natürlich habe ich den Kindern weniger Aufmerksamkeit geschenkt als andere Mütter. Ich habe zum Beispiel nie mit ihnen Aufgaben gemacht. Bekamen sie eine Eins, war es gut. Bekamen sie eine Drei, selbst schuld. Sie sollten es selbst ausbügeln. Mein 64-jähriger Sohn hat mir dieser Tage gesagt: „Du warst eine gute Mutter. Du hast uns einfach mehr Freiheiten zur Selbstständigkeit gegeben. Was ist denn gut daran, wenn dir die Mutter ständig auf den Fersen ist, dich nicht leben lässt und an deiner statt lebt?“


Aber mit der Emigration haben Sie Ihren Mann und Ihre Kinder doch aus der Schusslinie nehmen müssen, weil Sie wegen Ihrer Tätigkeit die Arbeit verloren haben?

Ja. Weder mein Mann noch meine Söhne waren Dissidenten. Aber sie haben mir geholfen, und ich befürchtete, dass man uns alle gemeinsam verhaften werde oder meine Familie verhaften würde und nicht mich.


In Bertold Brechts Legende von der Entstehung des Buches „Tao Te King“ auf dem Weg des Laotse in die Emigration heißt es, „dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.“ Teilen Sie diese Weisheit?

Es passt sehr für unsere Tätigkeit. Es braucht riesige Anstrengungen und Zeit, damit der Kreml die gesetzlich vorgeschriebenen Menschenrechte einhält. Nicht immer ist man dabei erfolgreich. Ziemlich oft sogar nicht.

Die Demonstrationen seit Dezember brachten die Ablehnung der derzeitigen Machthaber zutage. Aber wissen die Demonstranten, was sie stattdessen wollen?

Dieses Moment beunruhigt mich sehr. Sie wissen, dass sie mehr Demokratie und einen Rechtsstaat wollen, dazu Gesundheitsversorgung sowie eine ordentliche Polizei und keine Bande, die gefährlicher ist als die Verbrecher. Aber was man dafür konkret tun muss, verstehen nur wenige. Wir haben den Club „12. Dezember“ (der russische „Tag der Verfassung“, Anm.) gegründet. Dort treffen sich Spezialisten für alle Bereiche. Alle arbeiten daran, damit sie verstehen, was zu tun ist, wenn dieses Regime fällt. Aber die Arbeit hat erst begonnen, und es ist nicht ganz klar, ob wir erfolgreich sind und rechtzeitig fertig werden. Der Zusammenbruch des Regimes wird von selbst vor sich gehen.


Nehmen wir nur die Polizei her . . .

. . . ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, wie man eine normale Polizei schafft. Nehmen wir an, wir stellen neue Leute ein. Wo soll man aber mit den jetzigen Banditen hin? Und wie die neuen Leute auswählen? Die Menge an Vorschlägen ist noch nicht ausreichend. Die Justizreform ist schon besser ausgearbeitet.


Zu welchem Grundsatz raten Sie den Menschen?

Meine Großmutter hat mir in der Kindheit erklärt, dass man die Leute so behandeln soll, wie man von ihnen behandelt werden möchte. Und weiter: Tu auch dem schlechtesten Menschen nie etwas Schlechtes, das du von anderen nicht erleiden möchtest. Mehr braucht es nicht – im Alltag. Auf globaler Ebene aber ist es die Allgemeine Menschenrechtsdeklaration.


1. . . ob Sie nie Zweifel an Ihrer Tätigkeit hatten?
Nein. Es gibt Leute, die bis zum Lebensende nicht wissen, was sie wollen. Ich habe vor einem halben Jahrhundert meine Berufung gefunden. Und sofort wurde das Leben interessant, die Komplexe legten sich.

2. . . womit man Sie noch verwundern kann?
Wenn Putin morgen alle seine Gesetze der vergangenen Zeit rückgängig macht, werde ich mich sehr wundern und freuen.
3. . . was nach dem Tod kommt?
Ich bin in der Sowjetzeit aufgewachsen. Ikonen hängen da, aber ich bin nicht unbedingt gläubig und nicht unbedingt nicht gläubig. Nach dem Tod sinken wir in die Erde, aber der Mensch ist so lange am Leben, wie sich jemand an ihn erinnert. Und weil ich mit so vielen Leuten gearbeitet habe, hoffe ich, dass sich nicht nur meine Verwandten meiner erinnern werden.

1927
auf der Krim geboren, zog Ljudmila Alexejewa schon früh mit ihren Eltern nach Moskau, wo sie später Geschichte studierte. Gegen Ende der Stalinzeit 1952 in die Kommunistische Partei eingetreten, wandelt sich Alexejewa bald zu einer der führenden Aktivistinnen, die gegen die berüchtigten politischen Prozesse auftreten. 1968
wird sie aus der Partei ausgeschlossen.

1976
gründet sie gemeinsam mit dem Physiker Juri Orlov die Moskauer Helsinki-Gruppe, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt. 1977 wird Alexejewa ausgebürgert. Aus den USA zurück in Russland, übernahm sie 1996 die Moskauer Helsinki-Gruppe, wurde 2004 Mitglied im Menschenrechtsrat des Staatspräsidenten und abermals zu einer der lautstärksten Dissidenten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2012)

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