"Erdogans Regierungsstil funktioniert nicht mehr"

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Der Türkei-Experte Cengiz Günay deutet die Protestwelle als Ruf nach echter Demokratie. Für Premier Erdogan seien die Demonstrationen ein Warnsignal: Er habe die Bürger mit seiner Politik bevormundet.

DiePresse.com: Wie gefährlich ist die Protestbewegung mittlerweile für Premier Recep Tayyip Erdogan geworden?

Cengiz Günay: Erdogan hat die Proteste ziemlich unterschätzt. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass sich diese Protestbewegung nicht mehr nur auf Istanbul, Ankara und einige Großstädte beschränkt. Es tauchen immer mehr Bilder aus türkischen Provinzstädten auf. Auch dort gehen enorme Menschenmassen auf die Straßen, die nicht vor dem brutalen Vorgehen der Polizei zurückschrecken. Und obwohl heute Montag ist, sind die Demonstrationen nicht abgeflaut.

Der Premier hätte deeskalierend wirken können, aber er hat diese Chance vergeben. Er hat die Leute als Randalierer oder Lumpen bezeichnet, die nichts zu tun hätten. Dabei sind viele junge Menschen darunter, Studenten, aber auch Ältere, viele Frauen - also sämtliche Gesellschaftsschichten. Das Bauprojekt im Gezi-Park war ein Auslöser für die Proteste: Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Sie sagen, die geplante Verbauung des Gezi-Parks war Auslöser. Was aber ist die Ursache für die Proteste?

Die Menschen fürchten, dass die Türkei immer autoritärer wird. Der Premierminister meldet sich zu den verschiedensten Themen zu Wort; normalerweise setzt man sich als Premier nicht mit den Detailfragen des Privatlebens auseinander. Die Menschen fürchten, dass sie in ihrem Lebensstil und in ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Es herrscht nicht nur Beunruhigung, sondern Angst. Vor allem die Jugend hat Angst, dass ihr neu gewonnene Freiheiten wieder weggenommen werden.

Die Menschen, die protestieren, sind politisch gesehen sehr unterschiedlich. Droht diese breite Koalition nicht bald zu zerbrechen?

Ich glaube nicht, dass sich diese Proteste in eine politische Bewegung umwandeln werden. Das ist auch das Problem: Die Protestbewgung hat keine ganz klare politische Forderung - außer den Rücktritt Erdogans. Ihre Slogans könnten leicht verhallen. Aber wichtig ist auch: Es ist eine Protestbewegung, wie sie es zuletzt auch in anderen Ländern wie Spanien oder Deutschland gab. Sie kann das System aufrütteln und erschüttern. Es ist ein Warnsignal für Erdogan, dass sein paternalistischer Regierungsstil nicht mehr funktioniert. Die Gesellschaft wird immer diverser, und möchte sich nicht länger bevormunden und vorschreiben lassen, wie sie zu funktionieren hat und wie sie denken soll.

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Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den Protesten am Taksim-Platz mit jenen des Tahrir-Platzes? Ist ein solcher Vergleich zutreffend?

Einerseits bietet sich der Vergleich an, aber es gibt natürlich grundlegende Unterschiede. Erdogan ist ein demokratisch gewählter Premier, seiner Regierung kann man nicht die Legitimität absprechen. Es geht im Kern um das Verständnis von Demokratie. Erdogan versteht nun die Welt nicht mehr - und er will Istanbul weiter verbauen, wie er in seiner TV-Ansprache angekündigt hat. "Ich werde mit einem Diktator verglichen, dabei stehe ich doch im Dienste des Volkes!", denkt er sich. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er gewählt wurde und deshalb Entscheidungen trifft. Aber Demokratie lässt sich nicht rein auf Wahlen reduzieren. Demokratie ist viel mehr. Gerade bei so sensiblen Bau- und Prestigeprojekten wäre es wichtig, partizipativ vorzugehen. Gegen dieses Demokratieverständnis wird protestiert.

Aber die stille Mehrheit steht doch noch hinter ihm.

Ja, das glaube ich auch. Gebe es jetzt Wahlen, würde die AKP vermutlich auch die Mehrheit erzielen. Aber Erdogan hat diese Krise sehr schlecht gemanagt. Die AKP ist seit mehr als zehn Jahren an der Regierung und zeigt Ermüdungserscheinungen. Es ist sicher ein Verdienst der Regierung, dass die Wirtschaft so brummt und das Land an Wohlstand dazugewonnen hat. Aber nicht alle profitieren in gleichem Maße davon.

Könnte die Regierung über die Protestwelle stürzen?

Im Moment sieht es nicht danach aus. In der Türkei hat man außerdem noch nicht so viel Erfahrung mit Massenprotesten dieser Größe. Die aktuelle Entwicklung ist jedoch ein wichtiger Test im Prozess der Demokratisierung des Landes, ein Lernprozess für alle Seiten.

Zur Person

Cengiz Günay ist Forscher beim Österreichischen Institut für Internationale Politik (OIIP). Er beschäftigt sich hauptsächlich mit der Türkei und dem Nahen Osten. Sein Buch „Die Geschichte der Türkei" ist bei Böhlau/UTB erschienen. Informationen: www.oiip.at

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