Der Türkei-Experte Cengiz Günay deutet die Protestwelle in türkischen Städten als Ruf nach echter Demokratie. Für Premier Erdoğan seien die Demonstrationen ein Warnsignal, das er ernst nehmen sollte.
Die Presse: Wie gefährlich sind die Proteste mittlerweile für Premier Recep Tayyip Erdoğan geworden?
Cengiz Günay: Erdoğan hat die Proteste ziemlich unterschätzt. Der Premier hätte deeskalierend wirken können, aber er hat diese Chance vergeben. Er hat die Leute als Randalierer oder Lumpen bezeichnet, die nichts zu tun hätten. Dabei sind viele junge Menschen darunter, aber auch Ältere, viele Frauen – sämtliche Gesellschaftsschichten. Das Bauprojekt im Gezi-Park war ein Auslöser für die Proteste: der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Was ist also die Ursache der Proteste?
Die Menschen befürchten, dass die Türkei immer autoritärer wird. Der Premierminister meldet sich zu den verschiedensten Detailfragen des Privatlebens zu Wort. Die Bürger fürchten, dass sie in ihrem Lebensstil und ihrer Freiheit eingeschränkt werden. Vor allem die Jugend hat Angst, dass ihr neu gewonnene Freiheiten wieder weggenommen werden.
Die Menschen, die protestieren, sind politisch gesehen sehr unterschiedlich. Droht diese breite Koalition nicht bald zu zerbrechen?
Ich glaube nicht, dass sich die Proteste in eine politische Bewegung umwandeln werden. Das ist auch das Problem: Die Protestbewegung hat keine ganz klare politische Forderung – außer den Rücktritt Erdoğans. Ihre Slogans könnten leicht verhallen. Aber wichtig ist auch: Es ist eine Bewegung, wie es sie zuletzt auch in anderen Ländern wie Spanien oder Deutschland gab. Es ist ein Warnsignal für den Premier, dass sein paternalistischer Regierungsstil nicht mehr funktioniert. Die Gesellschaft wird immer diverser und möchte sich nicht länger bevormunden und vorschreiben lassen, wie sie zu funktionieren hat und wie sie denken soll.
Aber die stille Mehrheit steht doch noch hinter ihm.
Das glaube ich auch. Gebe es jetzt Wahlen, würde die Regierungspartei AKP vermutlich die Mehrheit erzielen. Aber Erdoğan hat die Krise sehr schlecht gemanagt.
Könnte die Regierung über die Protestwelle stürzen?
Im Moment sieht es nicht danach aus. In der Türkei hat man außerdem noch nicht so viel Erfahrung mit Massenprotesten dieser Größe. Die aktuelle Entwicklung ist jedoch ein wichtiger Test im Prozess der Demokratisierung des Landes, ein Lernprozess für alle Seiten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2013)