Steuererhöhungen, Veggie-Day und Pädophilie-Debatte: Für Jürgen Trittin und Co lief der Wahlkampf alles anderer als optimal.
Berlin. Für die erfolgsverwöhnten Grünen ist das Wahlergebnis ein veritabler Schock. 8,1 Prozent Prozent. Das ist zwar gegenüber 2009 kein Absturz, aber es geht abwärts. Gegen 21.00 sind bei der Grünen Wahlparty am Columbiadamm noch etwa 150 vor allem jüngere Parteimitglieder. Die Stimmung ist ob der Verluste gedämpft, aber nicht hoffnungslos. Als die jüngste Hochrechnung über den Bildschirm läuft, brandet Jubel auf. Über die 4,5 Prozent der FDP. Den Grünen ist nur die Schadenfreude geblieben. Und der Parteijugend die Hoffnung, dass ihre Spitze sich nicht auf Schwarz-Grün einlässt: „Wenn die das machen, dann treten die Jungen geschlossen aus", sagt ein aufstrebendes Parteimitglied aus Berlin - und quittiert mit Entsetzen, dass Parteichef Jürgen Trittin das nicht kategorisch ausgeschlossen hat. Wenig später im TV-Interview gibt er sich auch äußerst vage.
Als Winfried Kretschmann im Frühjahr 2011 ausgerechnet im einstigen CDU-Erbland Baden-Württemberg zum ersten Grünen Ministerpräsidenten der Bundesrepublik wurde, schien für einen Moment alles möglich. Doch für die Grünen ist es seither alles andere als optimal gelaufen. Personell war man mit den Spitzenkandidaten zwar gut aufgestellt: Ex-Maoist Jürgen Trittin, eine routinierte Wahlkampf-Maschine zur Mobilisierung der alten linken Klientel, Katrin Göring-Eckardt für das Ausgreifen der Partei ins bürgerliche Milieu. Doch dann ging alles schief, was nur schiefgehen konnte.
Zunächst war da die Sache mit den Steuern. In einem Anfall von Ehrlichkeit propagierten die Grünen Steuererhöhungen für Wohlhabende, die über die Pläne der SPD noch hinausgingen. Dumm nur, dass das mittlerweile auch einen Teil der Grünen Wählerschaft betrifft. Man betonte zwar, dass 90 Prozent der Bürger entlastet würden und die Erhöhungen nötig seien, um Ausgabenpläne seriös gegenzufinanzieren (Jürgen Trittin hätte sich nur zu gerne als Finanzminister einer rot-grünen Koalition gesehen), doch der Schaden war erstmal angerichtet.
Dann der Veggie-Day, den „Bild" aus den Tiefen des über 300 Seiten starken Wahlprogramms zutage förderte. Er war zwar nie als Zwangsmaßnahme gemeint, eignete sich aber für die politischen Gegner prächtig, um die Grünen als Verbotspartei und Spaßbremse zu etikettieren. Besonders lustvoll kostete dies FDP-Spitzenmann Rainer Brüderle aus, der sich von den „Grünen Gouvernanten" doch bitteschön nicht vorschreiben lasse, ob er ein Kotelett oder Gemüse essen dürfe. Sogar Kanzlerin Merkel gönnte sich in dieser Sache eine ihrer seltenen Spitzen.
Schließlich die Nähe der Früh-Grünen in den 80er-Jahren zu pädophilen Strömungen. Ausgerechnet Trittin geriet da kurz vor der Wahl in schiefes Licht, er war 1981 presserechtlich verantwortlich für ein Programm der Göttinger Grünen, das Sex mit Kindern straffrei stellen wollte, sofern es dabei nicht zu Gewalt oder Androhung von Gewalt gekommen sei. Das Sex mit Kindern in jedem Fall Gewalt darstellt, das zeigte der moralische Kompass damals offenbar nicht an, den die Grünen sonst so gerne vor sich hertragen (Ernährung, Energie, Umwelt), und so büßte die Öko-Partei gerade in dieser heiklen Frage massiv an Glaubwürdigkeit ein.
Vergangenheitsbewältigung wird bei den Grünen an sich groß geschrieben, die Vergangenheit der eigenen Partei kehrte man aber zu lange unter den Teppich, und solche Themen kommen immer dann hoch, wenn man sie am wenigsten brauchen kann: im Wahlkampf. Die Gegner ließen sich die gebotene Angriffsfläche natürlich nicht entgehen. In der letzten „Berliner Runde" betonten die Regierungsparteien zwar, dass das nun wirklich kein Wahlkampf-Thema sei, was sie aber nicht daran hinderte, trotzdem minutenlang darüber zu sprechen.
Als die Umfragen kurz vor der Wahl schon Ungemach anzeigten, setzte die Partei verzweifelt auf ihr altes Leib- und Magenthema Energiewende und Atomausstieg. Dieses war ja von Kanzlerin Angela Merkel post Fukushima kurzerhand gekapert worden. Die Grünen wurden also Opfer ihres eigenen Erfolgs und mussten nun darstellen, warum es die wahre Energiewende nur mit ihnen gebe, obwohl der Atomausstieg mittlerweile quer durch die Parteien ebenso unumstritten ist wie - mit Ausnahme der FDP vielleicht - der langfristige Umstieg auf erneuerbare Energien.
Letztlich mussten die Grünen erneut einen Wahlkampf ohne reale Machtoption führen, denn rot-grün war nie in Reichweite, rot-rot-grün wurde schon von den Sozialdemokraten kategorisch ausgeschlossen, und über schwarz-grün wollte man sich bei CDU und Grünen nicht einmal den Kopf zerbrechen. Zumindest offiziell nicht.