"Der IS hatte von Anfang an eine clevere Strategie"

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Der renommierte Extremismus-Forscher Peter Neumann im Interview über die Strukturen des IS – und über Jihadisten aus Österreich.

Der Islamische Staat (IS) ist sehr wohlhabend, dank den Einnahmen aus dem Ölverkauf und finanzstarken Sponsoren. Aber wie kann man sich die Strukturen innerhalb dieses „Staates“ vorstellen? 

Peter Neumann: Das Staatswesen ist für den IS kein Problem. Die Bürokraten, die Steuern einnehmen, sind dieselben, die das für den syrischen Staat gemacht haben. Der IS selbst hat zwei Sachen eingeführt: Justiz und Religionspolizei. Es gibt nun in jedem Ort ein Schariagericht. Die Religionspolizei achtet etwa darauf, dass die Frauen ihre Schleier korrekt tragen. Alle andere Elemente der lokalen Verwaltung und dem Staatswesen bestanden bereits vor dem IS. Die Taliban sind in Afghanistan auch so vorgegangen. Man muss sich das nicht so vorstellen, dass der IS alles von Null aufbaut.

Es müssen auch Personen gefunden werden, die die neu implementierten „Ämter“ ausführen.

Ja, in jeder Provinz gibt es einen Statthalter, der sich um zivile Dinge kümmert sowie einen militärischen Beauftragten. Das sind IS-Leute. Jene, die als Kämpfer nicht tauglich sind, können etwa bei der Polizei eingesetzt werden. Aber die meisten Leute in der Lokalverwaltung waren schon vorher in der Lokalverwaltung.

Ab wann und warum ist der IS eigentlich derart erfolgreich geworden?

Der Islamische Staat existiert als Gruppe offiziell seit April 2013. Aber dieses Jahr hatte der IS plötzlich viel Erfolg, das hängt mit zwei Punkten zusammen. Der IS hat von Anfang an eine andere, clevere Strategie als al-Qaida verfolgt: Dem IS war es nicht so wichtig, das Regime von Bashar al-Assad zu stürzen, sondern einen Staat aufzubauen und auszuweiten. Zweitens waren zu dem Zeitpunkt im Irak die ethischen Spannungen auf dem Höhepunkt, die Regierung ist gegen Sunniten vorgegangen. Der IS hat diesen Unmut für eigene Zwecke instrumentalisiert. Hinzu kommt, dass der IS durch seine internationale Ausrichtung auf viele Ressourcen zurückgreifen konnte, die lokale syrische Gruppen nicht hatten. Der IS hatte immer schon Auslandskämpfer, darunter viele nutzlose, aber auch viele aus Tschetschenien und Libyen mit Kampferfahrung.

Zwischen IS und al-Qaida besteht auch ein Konkurrenzverhältnis. Es heißt, die IS-Henker seien selbst der al-Qaida zu brutal.

Es gibt natürlich eine Konkurrenzsituation. Die Streitigkeiten sind aber vor allem strategisch, nicht ideologisch. Für Al-Qaida sind die Taten des IS wie Enthauptungen, das Vorgehen gegen Schiiten oder Versklavung von Menschen islamisch gerechtfertigt, aber nicht nützlich. Al-Qaida ist strategisch pragmatischer. In den letzten Wochen – seit den amerikanischen Militärschlägen – gibt es einige Annäherungsversuche, besonders auf der unteren Ebene, die Organisationen haben wieder einen „gemeinsamen Feind“. Ich kann mir vorstellen, dass es wieder zu einer taktischen Kooperation kommt, aber nicht zu einer Vereinigung.

Die Anti-IS-Koalition und die Luftschläge der USA gibt es zwar noch nicht so lange, aber bisher kann man feststellen, dass die Bekämpfung des IS kaum Früchte getragen hat. Wie bewerten Sie die Maßnahmen?

Der Fehler war, zu suggerieren, dass man den IS in ganz kurzer Zeit schlagen und zurückdrängen kann. Die Luftschläge können nur die Funktion haben, den Vormarsch des IS zu stoppen. Das ist zum Teil auch passiert, sonst hätte der IS etwa Bagdad eingenommen. Die Luftschläge werden aber nicht den IS zerstören, dadurch können keine Gebiete zurückgewonnen werden...

...sondern nur mit Hilfe von Bodentruppen?

Selbst wenn die Kurden erfolgreich wären, hätten sie eine unglaublich schwierige Zeit in Mossul, Raqqa und überall sonst, weil sie Kurden sind und von der lokalen Bevölkerung nicht akzeptiert würden. Die einzige Lösung ist die Fortsetzung der Luftschläge und die Zusammenarbeit mit der sunnitischen Bevölkerung und den Stämmen. Das wird wahrscheinlich ein, zwei Jahre dauern.

Diese Woche hat offenbar erneut ein IS-Kämpfer aus dem Ausland, ein Deutscher, einen Selbstmordanschlag im Irak verübt. Besonders ausländische Kämpfer ohne Kampferfahrung scheinen als Kanonenfutter eingesetzt zu werden.

Absolut. Auslandskämpfer mit militärischer Ausbildung und Kampferfahrung werden als Kämpfer eingesetzt. Die meisten Europäer haben aber in ihrem Leben noch keine Waffe angefasst. Wenn die Kämpfer eine nützliche Ausbildung haben, zum Beispiel Kfz-Mechaniker, dann können sie für den IS Panzer reparieren. Wenn sich die Auslandskämpfer mit sozialen Medien auskennen, dann werden sie für die soziale Medienkampagne des IS eingesetzt. Wenn sie aber nichts von alledem haben, dann kommen sie für besonders brutale Aktionen in Frage, die häufig von vielen Syrern verweigert werden. Die Auslandskämpfer sind ideologisch drauf, haben mit Syrien meistens nichts zu tun und lassen sich leichter zu exzessiv brutalen Aktionen überreden. Deswegen nimmt sie der IS auf. Ich kenne seit Beginn des syrischen Konflikts keinen einzigen Fall, bei dem ein Syrer einen Selbstmordanschlag ausgeführt hätte. Im Irak in den 2000ern wurden 90 Prozent der Selbstmordanschläge von Ausländern durchgeführt.

Angesichts all dieser grausamen Propagandabilder, die der IS verbreitet, stellt sich immer noch die Frage, warum sich junge Menschen aus Europa dem Jihad anschließen.

Wer sich den Jihadisten anschließt, der weiß, worum es geht. Der weiß, dass dort ein Krieg stattfindet und dass jihadistische Organisationen zum Teil in sehr brutale Aktionen verwickelt sind. Für einige der vor allem männlichen Kämpfer stellt der Abenteueraspekt einen Anreiz dar. Und dass man jede dieser Brutalitäten rechtfertigen kann, zum Beispiel die Enthauptungen. Viele Kämpfer sagen, dass es Enthauptungen seit 2000 Jahren gibt, dass bei der Französischen Revolution auch Köpfe gerollt sind. Nun mache man das jetzt auch und es sei islamisch gerechtfertigt. 

Wenn wir Abenteuerlust sagen: Ist dieses Argument nicht zu kurz gegriffen? Wenn ich Abenteuer will, kann ich durch Nepal trampen.

Schon, aber das ist nicht das ultimative Abenteuer. Es geht darum, ins Ausland zu gehen, mit den Brüdern zusammen zu sein, zu kämpfen, ein Held zu sein. Und das werden Sie nicht, wenn Sie durch Nepal spazieren. Für viele ist es das größte Abenteuer ihres Lebens. Letztes Jahr gab es auf Twitter die Kampagne „The Five Star Jihaders“. Da wurden Bilder von Kämpfern am Swimming Pool getweetet, beim Billard spielen – oder eben auch im Kampf. Es sollte die Illusion vermittelt werden, dass dies der coolste Abenteuerurlaub aller Zeiten – und du ein Held wirst.

Jihad-Kämpfer aus dem Ausland haben freilich keine einheitliche Biographie. Welche Merkmale fallen Ihnen trotzdem auf?

Es ist wirklich eine sehr große Bandbreite. Ungewöhnlich ist, dass es nun auch ganz viele junge Leute gibt, 15 oder 16 Jahre alt, das gab es vor zehn Jahren nicht. Neu ist auch, dass 10 bis 15 Prozent der Jihadisten weiblich sind. Ich führe diese breitere Fächerung auch auf das Internet zurück. Aber natürlich sind nach wie vor Männer in einer bestimmten Altersgruppe betroffen, Leute in ihren Teens bis Mitte ihrer Zwanziger. Das ist immer noch die Hauptgruppe und wird wahrscheinlich immer so bleiben. Bei einer Studie in Deutschland kam heraus, dass 25 Prozent der Jihadisten Abitur hatten, eigentlich viele Leute mit durchaus gute Perspektiven. Aber es gibt auch viele gescheitere Biografien.

Welche Rolle spielt Österreich bei der „Entsendung“ von Kämpfern? Dass über 150 Kämpfer nach Syrien gezogen sind, ist bemerkenswert.

Die Österreicher sind überrepräsentiert und stärker als die großen europäischen Länder betroffen. Aber es gibt schlimmere Fälle in Europa. Belgien ist mit über 300 Kämpfern am stärksten betroffen. Natürlich passiert viel über das Internet, wir sehen aber auch, dass die Rekrutierung von Gesicht zu Gesicht und von Haus zu Haus stattfindet. Einzelne „Rekrutierer“ haben tatsächlich viel Einfluss. Sie haben in Österreich den Mohamed Mahmoud, auf den viele dieser Fälle zurückgehen. Und meistens ist es so: Wenn einige Leute drüben sind, holen sie nach und nach ihre Freunde, es entsteht eine Kettenreaktion. Das scheint in Österreich der Fall gewesen zu sein.

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Zur Person

Der Extremismus-Experte Peter Neumann ist Professor am International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence am Londoner King's College.

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