„Human Rights Watch“ will Belege haben, dass die Armee die geächtete Munition einsetzte und vermutet, dass die Rebellen dies ebenfalls taten.
Die Frau von Ivan F. stand direkt am Fenster. Das wurde ihr zum Verhängnis. „Geschoß-Fragmente durchschlugen das Fenster und zerfetzten ihre Halsschlagader“, erzählt der ältere Mann mit gefasster Stimme und zeigt zur Demonstration die Stelle an seinem Hals. Für die Rüstungsexperten der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ HRW ist die Sache eindeutig: Die Gattin von Ivan F. wurde Opfer eines Angriffes mit Streumunition.
Nachdem immer wieder unbestätigte Vorwürfe aufgetaucht waren, dass diese heimtückischen Waffen, die im Bürgerkrieg zwischen Armee und separatistischen Rebellen im Osten der Ukraine immer wieder eingesetzt werden, hat HRW nun Beweise zusammengetragen: Diese würden zeigen, dass Streumunition verbreitet verwendet wurde, sagt Ole Solvang von HRW. Zwölf Angriffe wurden akribisch dokumentiert.
„Sub-Munitionen“ gefunden
Der Nachweis ist relativ leicht, aufgrund der charakteristischen Einschlagsmuster – und vor allem weil zahlreiche sogenannte „Sub-Munitionen“, in die sich ein Geschoß mit Streumunition aufspaltet, als corpora delicti gefunden wurden. Wenn diese „Bomblets“ nicht sofort explodieren, was zu einem gewissen Prozentsatz der Fall ist, können sie noch Jahre später für Opfer unter der Zivilbevölkerung sorgen.
„Und unsere Beweise zeigen, dass die ukrainischen Streitkräfte zumindest für einige dieser Angriffe verantwortlich waren“, ergänzt Solvang. Dies wird unter anderem aus der rückverfolgbaren Flugbahn der Geschosse geschlossen, und daraus, dass einige der Ziele offenbar von Rebellen genutzte Gebäude waren. Bei einem dieser Angriffe Anfang Oktober kam übrigens ein Rot-Kreuz-Mitarbeiter aus der Schweiz ums Leben.
Die ukrainische Präsidentschaft kündigte schließlich am Dienstag eine Prüfung des Berichts an. Ein Sprecher der Armee wies die Vorwürfe hingegen umgehend zurück: Wir verwenden keine Streumunition. Sie kann nur von Flugzeugen aus abgeworfen werden, und unsere Luftwaffe ist seit der Verkündung des Waffenstillstands am 5. September keine Einsätze geflogen. Doch das behauptete die Menschenrechtsorganisation gar nicht, außerdem ist es falsch: Streumunition kann genausogut in Boden-Boden-Geschossen stecken, und genau das war offenbar im Osten der Ukraine der Fall, was durch die gefundenen Überreste auch eindeutig belegbar ist. Es habe sich laut HRW um Uragan- (220 mm) und Smerch-Projektile (300 mm) gehandelt.
Illegale Hinrichtungen
Doch HRW beschuldigte nicht die ukrainischen Streitkräfte allein, sondern auch die pro-russischen Rebellen: Die Umstände würden darauf hinweisen, dass auch die Anti-Regierungs-Kräfte Streumunition eingesetzt haben könnten.
Streumunition ist international geächtet. Bisher 114 Staaten sind seit 2008 der Osloer Konvention beigetreten, die zur völligen Vernichtung der Arsenale verpflichtet (86 davon haben sie ratifiziert). Weder Russland noch die Ukraine sind darunter, ebensowenig allerdings die USA. „Streumunition auf Wohngebiete abzufeuern, verletzt dennoch das Kriegsrecht und könnte sogar ein Kriegsverbrechen darstellen“, sagt der HRW-Experte.
Erst einen Tag zuvor hatte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den Kriegsparteien schwere Verbrechen vorgeworfen: „Es gibt keine Zweifel an illegalen Hinrichtungen und Gräueltaten, die von prorussischen Separatisten und ukrainischen Milizen begangen wurden.“
(APA/DPA/Red.)