Frauen in den Fängen des IS

Ca 1000 Teilnehmer demonstrieren gegen die Milizen des Islamischen Staat IS ISIS und deren Angr
Ca 1000 Teilnehmer demonstrieren gegen die Milizen des Islamischen Staat IS ISIS und deren Angrimago/Future Image
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Im Nordirak hält der Islamische Staat tausende Frauen der Minderheit der Yeziden gefangen. Die "Presse am Sonntag" hat mit vier Überlebenden gesprochen, die aus der Gewalt des IS befreit worden sind.

Itisar und Suraia sitzen reglos und stumm auf ihren Stühlen. Ihre Augen sind weit aufgerissen, sie starren teilnahmslos in eine Ferne, in der sie mit sich selbst völlig allein sind. Die Hände liegen im Schoß, fast wie zum Gebet gefaltet. Neben ihnen sitzt das Geschwisterpaar Schars und Schachna. Sie bringen nur zögerlich Worte über die Lippen. Beiden stehen Tränen in den Augen. Immer wieder kommt ein tiefes Schluchzen aus der Brust von Schars. Ihren Arm hat die junge Frau behutsam um ihren elfjährigen Bruder gelegt. Sie alle können es noch nicht richtig begreifen. Die Zeit der qualvollen Gefangenschaft in den Händen des Islamischen Staats (IS) ist vorbei. Sie sind nun im Hauptquartier der Peschmerga-Truppen in Kirkuk, der Öl- und Gasmetropole der autonomen Kurdenregion. Sie sind in Sicherheit. Der Albtraum ist zu Ende.

„Sie haben Glück gehabt“, sagt einer der drei Begleiter des Jungen und der vier Frauen. „Bisher sind von den Tausenden von Yeziden, die der IS systematisch entführt hat, höchstens zwei Dutzend wieder freigekommen.“ Der Rest würde als Sklaven gehalten, fügt der Mann an, der aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben möchte. Er und seine beiden Kollegen sind die Organisatoren der Befreiung. Über zwei Wochen lang haben sie über Mittelsmänner mit den islamistischen Terroristen verhandelt. Am Ende gab es eine Einigung über ein Lösegeld von umgerechnet 15.800 Dollar. „Heute sind alle freigekommen und wir sind nun hier bei den Peshmerga, um dieses Geld wiederzubekommen“, erklärt der Mann. Rasul Omer, der Militärkommandant von Kirkuk, nickt zustimmend. „Ja, wir zahlen diese Summe zurück. Das ist das Mindeste, was wir für diese Frauen tun können“, meint Omer. Denn die Peschmerga sind am schrecklichen Schicksal der Yeziden nicht unbeteiligt. Als der IS im Sommer seine Großoffensive gegen die „Heiden“ in der Region Sindschar startete, zogen sich die kurdischen Truppen aus „taktischen Gründen“ zurück. Die radikalen Islamisten konnten ungehindert Jagd auf die „Ungläubigen“ machen. Viele Hunderte von ihnen wurden exekutiert, Tausende von Frauen und Kindern in die Sklaverei verschleppt sowie Zehntausende von Menschen in das Elend der Flüchtlingslager getrieben. „Was da passiert ist, bedauere ich zutiefst“, gibt der Offizier offen zu und fügt an. „Gerade als Soldat ist das nur schwer zu akzeptieren.“


Männer erschossen. Das Martyrium des Jungen und der vier Frauen im Alter von 19 bis 22 Jahren begann am 15. August. An diesem Tag griff der IS ihren Heimatort Kotscho an, der 18 Kilometer südlich der Stadt Sindschar liegt. „Nach wenigen Stunden haben sie unser Dorf eingenommen“, erzählt Schars. „Sie trieben alle Einwohner zusammen und trennten uns Frauen von den Männern.“ Schars muss eine kurze Pause machen, bevor sie weitersprechen kann. Tränen steigen ihr wieder in die Augen und dann ist da erneut einer ihrer tiefen Schluchzer. Sie schluckt einige Male, als könne sie damit ihre Trauer wegschieben und holt dann tief Luft. „Sie haben uns den gesamten Goldschmuck abgenommen und danach den Männern gesagt, die Steuern seien bezahlt und sie könnten jetzt verschwinden. Als sie jedoch die Schule verließen, in der man sie eingesperrt hatte, wurden sie alle auf offener Straße erschossen.“ Schars weiß nicht, wie viele Tote es gab, aber „es waren alle Männer unseres Ortes“, betont sie. „Hunderte, 1000 oder 2000. Das kann ich nicht sagen. Es waren einfach alle!“

Die Frauen von Kotscho brachte der IS in das von ihm kontrollierte Tel Afar. In dieser Stadt leben rund 100.000, überwiegend sunnitische Turkmanen, die sich den Extremisten angeschlossen haben. Von Tel Afar führt eine Verbindungsstraße ins 74 Kilometer entfernte Mosul, der Hochburg der Extremisten im Irak. Dort hat der IS-Chef, Abu Bakr al-Bagdadi, Anfang Juli das „Kalifat“ ausgerufen und sich selbst zum Herrscher eines „neuen kommenden islamischen Weltreichs“ ernannt. Von Irak und Syrien aus sollen alle Länder bis zur arabischen Halbinsel erobert werden. Die Türkei steht ebenso auf dem Plan wie Nordafrika, von dem die Islamisten dann auch nach „al-Andalus“ in Spanien eindringen wollen. Danach soll der Rest der Welt folgen.

In Tel Afar sortierte der IS alle jungen Mädchen aus, von denen man annahm, sie seien noch Jungfrauen. Die Islamisten brachten sie separat unter. Aus der gesamten Region, selbst aus Saudiarabien und anderen Golfstaaten, sollen Käufer in die IS-Gebiete kommen, um yezidische Frauen zu ersteigern. „Man kauft sie, um sie als Konkubinen zu halten, als Sklaven, die im Haushalt arbeiten oder man zwingt sie in die Prostitution“, erläutert der Organisator der Befreiungsaktion. Ungläubig und angewidert folgen der Peschmerga-Kommandant Omer und einige seiner Soldaten den Ausführungen. „Barbaren“, sagt einer von ihnen immer wieder vor sich hin. „Sie sind nichts anderes als Barbaren, miese Barbaren!“

Für einige Tage wurden Schars und Schachna, zusammen mit ihrem Bruder und den beiden anderen Frauen aus ihrem Heimatdorf, in einem „Lager“ untergebracht. „Wir waren dort mit mindestens eintausend anderen Frauen aus der gesamten Region Sindschar zusammen“, berichtet die 19-jährige Schars. „Nach zwei Tagen wurden wir alle als Kriegsbeute unter den IS-Kämpfern aufgeteilt. „Wir kamen in das Haus der Familie eines turkmenischen Kämpfers, der an der Eroberung unseres Dorfes beteiligt gewesen war“, fügt die drei Jahre ältere Schwester Schachna hinzu. „Jeden Tag forderte man von uns, das islamische Glaubensbekenntnis abzulegen. Da wir das nicht taten, wurden wir täglich mit einem Stock verprügelt.“

Alle drei bis fünf Tage wird die Gruppe von einem Haushalt zum anderen geschickt. Die neue Familie soll ihr Glück bei der Bekehrung der yezidischen Ungläubigen versuchen. „Es war immer das Gleiche, sie wollten uns Heiden mit allen Mitteln zum richtigen Glauben bekehren. Je öfter das ihnen nicht gelang, desto mehr Schläge gab es“, behauptet Schars. Die Konvertierungsversuche könnten eine Erklärung für den steten Wechsel zwischen den Unterkünften sein. Naheliegender ist aber sexueller Missbrauch. Von Aussagen anderer yezidischer Frauen, die in den Fängen des IS fest saßen, weiß man bereits, dass sexuelle Gewalt bei den Islamisten Gang und Gäbe ist. Eine der Frauen berichtete, sie sei über 30 Mal binnen weniger Stunden vergewaltigt worden. „Die Litanei von schrecklichen Verbrechen des IS gegen Yeziden im Irak ist lang und wächst ständig“, sagte Fred Abrahams von der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). „Wir hörten schockierende Geschichten von religiösen Zwangskonvertierungen, erzwungenen Ehen, sexuellen Übergriffen und Sklaverei.“

Es kann gut möglich sein, dass Schars, Schachna, Itisar und Suraia von Haus zu Haus gebracht wurden, nur mit dem Zweck, den Kämpfern sexuelle Diensten zu leisten. Heiden haben keine Seele, keinen Wert, denken die radikalen Islamisten. Nur, wenn sie Kinder von muslimischen Vätern gebären, haben sie wenigstens eine positive Funktion. Zudem wird die genetische Linie der Yeziden, die nur unter ihresgleichen heiraten dürfen, unterbrochen. Die Verzweiflung und Trauer, das Gefühl einer tiefen Leere, die in den Gesichtern der jungen Frauen abzulesen ist, lässt auf Demütigungen und Verletzungen schließen, die wohl nicht alleine von Stockschlägen stammen.

Tabuthema Vergewaltigung. Natürlich sprechen die jungen Frauen nicht über sexuelle Übergriffe in aller Öffentlichkeit. Das Thema ist Tabu. Niemand will die Schande und die Beschmutzung eingestehen – schon gar nicht durch den Erzfeind der Yeziden, der ausgezogen ist um alle Mitglieder der Glaubensgemeinschaft auszurotten. „Der IS will den Genozid an den Yeziden“, sagt Ali Atalan, der Vorsitzende der yezidischen Vereine in Deutschland. „Sie wollen unsere Religion und Kultur, die mindestens 4000 Jahre alt ist, komplett auslöschen.“ Der 46-Jährige glaubt, die Islamisten hätten Angst vor dem Yezidentum, da es die erste monotheistische Religion der Menschheitsgeschichte sei. „Schon unser Name besagt auf Kurdisch, dass wir Anhänger eines Gottes sind“, führt Atalan aus. „Zudem gibt es bei uns keinen Propheten, wir haben nur Gott alleine.“ Dass die Yeziden die Sonne, den Mond oder andere Naturerscheinungen anbeten würden, sei vollkommener Quatsch. „Wir sehen sie nur als Zeichen Gottes.“ Besonders dumm sei, die Yeziden als Teufelsanbeter zu bezeichnen, wie das insbesondere der IS tue. „Wenn man von einem Schöpfer des Universums ausgeht“, erklärt Atalan weiter, „warum sollte dieser eine Figur wie den Satan schaffen, der ihm Konkurrenz macht?“ Das sei doch völlig absurd. Der Vorwurf der Teufelsanbeter sei Propaganda des IS, eine medienwirksame Legitimierung für seine Verbrechen.

So einleuchtend das die Argumentation Atalans klingen mag, bei den radikal-konservativen Islamisten stößt das auf taube Ohren. Sie erkennen nur das Judentum und die Christen als halbwegs zu akzeptierende Religionen an. Der yezidische Melek Taus (Pfauengel), der mit sechs weiteren Engeln das Universum bewacht und als Ansprechpartner der Gläubigen fungiert, ist für die Islampuritaner blanke Blasphemie und Ausdruck des Heidentums.

lexikon

Das Yezidentum ist eine monotheistische Religion, dessen Wurzeln bis 2000 vor Christus zurückreichen. Eine besondere Rolle in der Religion nimmt der „Engel Pfau“ ein, der von den Gläubigen als Mittler zu Gott verehrt wird.

Weltweit gibt es etwa 800.000 Yeziden. Eine große Zahl lebt im Nordirak, in Syrien und im Iran. Mit dem Vormarsch des Islamischen Staates (IS) im Irak seit Sommer wurden zehntausende Yeziden zu Flüchtlingen. Noch immer stecken yezidische Familien im nordirakischen Sindschar-Gebirge fest.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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