Massenproteste: Durch Europa rollt eine Welle der Wut

(c) AP (Christophe Ena)
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Immer mehr Menschen spüren die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Ihr Unmut richtet sich auch gegen die Regierungen, denen sie eine Teilschuld geben – und oft nicht zutrauen, Lösungen zu finden.

Der Jänner ist noch nicht vorbei, doch eines steht schon fest: 2009 ist ein Jahr, in dem es gärt in Europa, in dem sich der Unmut der Menschen, die immer stärker die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu spüren bekommen, Bahn bricht. In friedlichen Demonstrationen, aber immer öfter auch in Krawallen und Straßenschlachten.

Ob in Reykjavik, Riga oder Vilnius, in Athen oder Sofia: Die Unzufriedenheit hat ein Maß erreicht, das Regierungen gefährlich werden kann: Islands Kabinett ist das erste, das von den andauernden Protesten sturmreif geschossen wurde. Es muss nicht das letzte bleiben. Speziell in Griechenland und Bulgarien steckt hinter sozialen Protesten wegen Sparpaket oder Wirtschaftskrise zudem eine tief gehende Enttäuschung über das ganze politische System.

Symptomatisch für die durch Europa rollende Protestwelle ist der Ausruf einer Gewerkschafterin bei den Massenprotesten am Donnerstag in Frankreich: „Wir wollen nicht die Krise ausbaden, für die wir nicht verantwortlich sind. Wegen der Banken sitzen wir im Schlamassel.“ Mit landesweiten Streiks protestierten Gewerkschaften und Linksparteien gegen die Krisenpolitik von Präsident Nicolas Sarkozy. Allein in Paris zog rund eine halbe Million Menschen von der Bastille zur Opéra. In Châtellerault bei Poitiers trugen Demonstranten auf einem Sarg einen Autositz. Er symbolisiert den Niedergang der Zulieferer der Autoindustrie, für die bisher ein Zehntel der 35.000 Einwohner arbeitete.

Von einem „starken Gefühl der Ungerechtigkeit, das in eine Revolte münden kann“ spricht der Soziologe Denis Muzet in „Le Monde“: „Die Banken weisen für 2008 Gewinne aus, während der Staat sie mit mehr als 20 Milliarden unterstützt.“ Das nährt die Verbitterung der Hunderttausenden von Arbeitnehmern, insgesamt vielleicht mehr als eine Million, die gestern demonstrierten.

Besonders zahlreich vertreten war das über den Stellenabbau empörte Personal des Erziehungssektors, der Universitäten und des öffentlichen Gesundheitswesens. Den Gewerkschaften, unterstützt von der linken Opposition, gelang es, über ihre Basis hinaus die Unzufriedenen zu mobilisieren.

Sarkozy: "Gerechtfertigte Beunruhigungen"

Sarkozy äußerte sich am Donnerstagabend erstmals zu dem Streik und sprach von "gerechtfertigten Beunruhigungen". "Diese Krise bedeutet für die Regierung die Pflicht zum Zuhören und zum Dialog, aber auch eine Entschlossenheit zum Handeln", sagte Sarkozy in einer in Paris verbreiteten Mitteilung.

Er wolle im Februar mit Gewerkschaftsvertretern zusammentreffen. Frankreich werde gestärkt aus der Krise hervorgehen, betonte er.

Sinkende Löhne, höhere Steuern

Während die Proteste in Frankreich zunächst ohne Krawalle über die Bühne gingen, waren Antiregierungsdemos im Baltikum Mitte Jänner aus dem Ruder gelaufen: höhere Preise und höhere Steuern, dafür niedrigere Löhne – das war den Litauern zu viel und so gingen sie gegen das verordnete Sparpaket auf die Straße. Eine Gruppe von Demonstranten versuchte, das Parlament zu stürmen. Ähnliche Bilder Tage zuvor aus dem benachbarten Lettland: Ein Teil der rund 10.000 Demonstranten attackierte mit Steinen und Flaschen bewaffnet die Volksvertretung, Polizeiautos wurden umgeworfen, Geschäfte geplündert.

Nirgendwo, abgesehen von Island, kam der Kollaps der Wirtschaft so rasch und so dramatisch wie im Baltikum: 2007 konnte die Region mit den höchsten Wachstumszahlen der EU protzen, nun sind die Aussichten schwarz: Um 6,9 Prozent soll das Sozialprodukt in Lettland heuer schrumpfen, in Estland und Litauen ist es nur unwesentlich besser. Lettlands Regierung veranschlagt fast fünf Prozent Budgetdefizit und das trotz extremer Sparmaßnahmen inklusive einer Senkung der Löhne im öffentlichen Sektor um 15 Prozent.

Die Blase ist geplatzt. Vor Kurzem hoffte Riga, ein internationales Finanzzentrum zu werden. Jetzt musste der Staat die größte heimische Bank Parex übernehmen und der übrige Finanzsektor ist in den Händen skandinavischer Banken, die durch ihre leichtfertige Kreditvergabe einen großen Anteil an der jetzigen Pleite haben.

Doch all das verblasst hinter der isländischen Katastrophe. Das kleine Land, das sich sonst kaum in die Schlagzeilen verirrte, wurde zum Symbol der internationalen Finanzkrise: Die Isländer waren die Ersten, die den Internationalen Währungsfonds zu Hilfe rufen mussten, um einen Staatsbankrott zu vermeiden. Jetzt sind sie auch die Ersten, die durch massive, teils gewaltsame Proteste gegen das Versagen der politischen und finanziellen Kontrollorgane eine Regierung zum Rücktritt zwangen.

Islands Pleite ist die Folge des ungehemmten Wachstums der Banken infolge der Liberalisierung des Finanzsektors. Deren aggressive Expansion in internationale Märkte führte zu einer Verschuldung, die das BIP um ein Neunfaches übertraf. Diese Schulden lasten nun auf dem Staat, der im Herbst drei zahlungsunfähige Großbanken übernehmen musste.

Auch die Haushalte sind maßlos verschuldet. Die Hochzinspolitik der Zentralbank verlockte die Isländer, für Hauskauf und Konsum billige Kredite in Fremdwährungen aufzunehmen. Nun ist die Krone abgestürzt, der Euro ist doppelt so teuer wie vor einem Jahr, was die Rückzahlung der Kredite für viele unmöglich macht.

Zusätzlich sind sie von der stark wachsenden Arbeitslosigkeit bedroht, das Sozialprodukt wird 2009 um zehn Prozent schrumpfen. Kein Wunder, dass viele Isländer meinen, nur noch ein Beitritt zur EU könne den Ruin abwenden.

An der Kippe war auch eine Regierung am anderen Ende Europas, in Griechenland: „Situation in Athen außer Kontrolle. Stadtzentrum brennt“, lief es am 8. Dezember über die Agenturen. Diese Unruhen, ausgelöst vom Tod eines 15-Jährigen durch Schüsse eines Polizisten, vermischten sich mit Protesten gegen ein Sparpaket der Regierung, die in einem landesweiten Streik gipfelten.

„Es reicht!“

Doch auch die wochenlangen Ausschreitungen der Jugendlichen hatten eine soziale Komponente: Ein Viertel der unter 29-Jährigen ist arbeitslos, mittlerweile trifft es auch besser Ausgebildete: Perspektivlosigkeit und keinerlei Vertrauen in die Lösungskompetenz der Regierung, auch nicht in die der Opposition. Viele in der jüngeren Generation stellen mittlerweile das ganze System infrage. Auch andere sind unzufrieden: Im Jänner kam es zu Straßenblockaden der Bauern, um ihre Pensionen bangende Beamte lieferten sich erst am Mittwoch eine Prügelei mit Polizisten.

Im nahen Bulgarien sieht es nicht besser aus. „Es reicht!“, lautet die Parole der Demonstranten, die seit Mitte Jänner mehrmals das Parlament belagerten. Durch gewalttätige Ausschreitungen und Massenverhaftungen geriet das sonst beschauliche Sofia in die Medien.

Auffällig viele Jugendliche ziehen durch die Straßen. Den meist keiner Partei nahestehenden Demonstranten gehe es weniger darum, die wackelige Mitte-links-Regierung durch eine andere zu ersetzen, umschreibt Politologe Dragomir Stoyanov die Ziele der „Generation Internet“. Der Grund für die Proteste sei tiefe Unzufriedenheit mit dem „pseudodemokratischen System“: „Sie wollen einen Wechsel in der Art, wie Demokratie hier funktioniert.“

Neben den immer stärker spürbaren Auswirkungen der Krise erregt die schier unendliche Kette von Korruptionsskandalen und unaufgeklärten Mafiamorden den Unmut der protestierenden „Kinder des Übergangs“ und der älteren Demonstranten. Viele Bulgaren sind es leid, als Sorgenkind und „schwarzes Loch“ von Europas Wohlstandsbündnis zu gelten.

Ein logischer nächster Kandidat für das Aufflammen des Volkszorns wäre Ungarn: Das Land ist dank internationaler Milliardenkredite nur knapp am Staatsbankrott vorbeigeschlittert. Eine Rekordzahl an Pleiten vermeldet die Statistik für das vierte Quartal 2008. Der frühere Tigerstaat dümpelt schon seit Jahren in der Krise. Als Premier Ferenc Gyurcsany 2006 einräumte, über den Zustand der Staatsfinanzen gelogen zu haben, wurde Budapest tagelang von gewalttätigen Demonstrationen erschüttert. Noch ist es ruhig, doch der gärende Unmut und die zunehmenden Spannungen lassen viele Ungarn vor dem großen Beben bangen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2009)

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