Exodus der Afghanen: „Jeder will raus“

Afghan residents sit on a truck as they leave their home after a battle with the Taliban in Kunduz Province, Afghanistan
Afghan residents sit on a truck as they leave their home after a battle with the Taliban in Kunduz Province, Afghanistan(c) REUTERS (STRINGER/AFGHANISTAN)
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Immer mehr Afghanen wollen den Bürgerkrieg in ihrer Heimat hinter sich lassen. Ihre erste und mittlerweile gefürchtete Station ist der Iran. Von dort reisen sie über die Balkanroute weiter nach Europa.

Kabul. Vor dem Passausstellungsamt in Kabul bildet sich jeden Morgen eine lange Schlange. Manche kommen in der Früh, andere besetzen ihre Plätze noch in der Nacht. Was sie verbindet: Sie wollen raus aus Afghanistan. Dafür braucht man, am Anfang zumindest, einen neuen Reisepass, den die meisten Afghanen nicht haben. Der alte, handgeschriebene Pass ist seit dem Vorjahr ungültig.

„Ich will zuerst legal in den Iran einreisen“, meint der 35-jährige Abdul Hakim. „Ohne Pass geht das nicht.“ Vom Iran aus will er dann weiterreisen – illegal. Sein Ziel ist, wie das der meisten Anwesenden, Europa. „Hier gibt es nichts mehr, was uns hält. Jeder will raus. Das ganze System hat versagt, und der Krieg geht weiter“, klagt der 19-jährige Faisal. Das Ziel des Studenten ist Schweden, wo seine Verwandten leben. „Hier gibt es weder Arbeit noch Sicherheit. Wer will schon in Armut und unter der Gefahr von Selbstmordanschlägen leben?“, fügt Faisal hinzu.

Elite nimmt den Flieger nach Istanbul

Laut den Vereinten Nationen wurden allein im Halbjahr 2015 etwa 5000 Zivilisten in Afghanistan getötet. Auch das Jahr zuvor war blutig. Mittlerweile hat der Krieg auch die afghanische Hauptstadt, die stets als „sichere Festung“ galt, erreicht. Anschläge haben in letzter Zeit zugenommen. Dies macht vor allem jene nervös, die den Krieg in ihrem Land bisher nur aus dem Fernsehen kannten und sich in vermeintlicher Sicherheit wiegten.

Es ist vor allem die reiche Elite des Landes, die nun ihr Hab und Gut, ihre Grundstücke und Häuser verscherbelt und das Weite sucht. Im Gegensatz zur absoluten Mehrheit des Landes können sich manche sogar eine Flucht leisten, die man wohl als luxuriös bezeichnen kann, etwa einen direkten Flug nach Istanbul, wo nicht wenige begüterte Afghanen Immobilien besitzen. Einige von ihnen bringen ihre ausländischen Beziehungen in Bewegung und fliegen direkt mit einem Visum nach Frankreich oder Großbritannien – wo sie dann Asyl beantragen.

Es sind aber auch diese Beziehungsspielchen, vor denen viele Afghanen aus den unteren Schichten fliehen. Laut der NGO Transparency International gehört das Land am Hindukusch weiterhin zu den korruptesten Staaten der Welt. Diese Korruption hat mittlerweile in allen möglichen Institutionen Fuß gefasst. „Ich habe in Kabul mein Studium erfolgreich abgeschlossen. Einen Job will mir allerdings niemand geben. Die sagen mir ganz offen, dass mir das Vitamin-B fehle“, meint Mustafa, 23, der ebenfalls auf seinen Pass wartet. Reich sei er auch nicht, um Beamte zu bestechen, fügt er hinzu. Um zu flüchten, hat er sich Geld von mehreren Freunden und Familienmitgliedern ausgeliehen. Zuerst will er in die Türkei reisen. Von dort aus will er weiter nach Europa ziehen. Über die schlimmen Zustände in Griechenland oder in Ungarn wisse er Bescheid, seine Hoffnung sei Deutschland, das „so viele Menschen freundlich empfangen“ habe.

Kritik an Massenflucht der Jungen

Kritische Stimmen beklagen die Massenflucht ihrer Mitbürger. Vor allem die jungen Menschen müssten doch bleiben, um zu kämpfen oder das Land wieder aufzubauen, so der Tenor einiger. „Die werden alle wieder zurückgeschickt. Das sind doch keine Syrer“, meinte kürzlich ein Studentenvertreter im Fernsehen. Diesen Meinungen halten Menschen wie Faisal entgegen: „Solche Leute haben gut reden, weil sie das nötige Geld und die nötigen Kontakte haben. Immer, wenn junge Menschen wie ich den Mund aufmachen, kommt ein älterer, dem System angepasster Typ und meint, dass wir Jungen doch sowieso keine Ahnung hätten“, sagt Faisal wütend. „Außerdem herrscht hier Krieg, jeden Tag sterben Menschen, und die Europäer wissen das.“ Faisals Onkel war Polizist und wurde getötet, weil er sich an den kriminellen Machenschaften seiner Kollegen nicht beteiligen wollte. „Entweder man passt sich dem System an, oder man wird aus dem Weg geräumt.“ Er habe weder Lust auf das eine noch auf das andere, sagt der junge Mann.

Ausgebeutet und diskriminiert im Iran

Wütend sind Faisal und viele andere Afghanen vor allem auf Präsident Ashraf Ghani. Dieser wurde vor rund einem Jahr ins Amt gewählt. Viele setzten ihre ganze Hoffnung auf den ehemaligen Weltbank-Mitarbeiter. „Er hat uns das Blaue vom Himmel versprochen. Wir bereuen es heute, jemals gewählt zu haben“, beklagen sich viele.

Ob tatsächlich der Präsident die alleinige Schuld an der gegenwärtigen Situation trägt, ist eine andere Frage. In den vergangenen Jahren wurde unter der Regentschaft von Hamid Karzai viel in Kabul und anderen Städten investiert. Aufgrund der hohen ISAF-Präsenz fühlten sich viele internationale Firmen sicher vor Ort und trieben die Wirtschaft an. Gegenwärtig ist dies nicht mehr der Fall. Das internationale Truppenkontingent wurde stark verkleinert. Die Sicherheitslage verschlechterte sich, was dazu führte, dass viele Investoren mit den Soldaten das Land verließen. Die Menschen in Kabul spüren das nun – und machen ausschließlich die jetzigen Machthaber dafür verantwortlich, während sie nostalgisch in die Karzai-Jahre zurückblicken.

In der schwierigsten Situation befinden sich jedoch noch immer die Ärmsten des Landes. Sie bleiben entweder ein weiteres Mal sich selbst überlassen, oder versuchen verzweifelt, ihr überschaubares Hab und Gut zu verkaufen, um damit Menschenschmuggler zu bezahlen. Schon der Weg in den Iran, wo schon über eine Million afghanische Flüchtlinge leben, ist für solche Menschen eine große Hürde. Regelmäßig töten iranische Sicherheitskräfte an der Grenze zu Afghanistan Flüchtlinge. Afghanen, die es in den Iran schaffen, sind Rassismus und Diskriminierungen ausgesetzt und werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.

Jene, die vor dem Passausstellungsamt ausharren, wollen all dies und mehr für ein besseres Leben in Kauf nehmen. Nicht alle werden heute drankommen. Laut der Behörde werden im Durchschnitt zweitausend Fälle pro Tag bearbeitet. Tendenz steigend. Ein Getränkeverkäufer bringt die Lage auf den Punkt: „Manchmal habe ich den Eindruck, ganz Afghanistan steht hier Schlange.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2015)

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