Analyse: Woher der IS kommt, und was er will

"Kalif" Abu-Bakr al-BaghdadiAPA/EPA/FURQAN MEDIA / HANDOUT
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Im sogenannten Islamischen Staat vermischen sich Endzeitfantasien mit realem Machtstreben.

Paris ist nur eine Zwischenstation zum apokalyptischen Endkampf, auf den der sogenannte Islamische Staat (IS) seine Männer vorbereitet. Diese letzte Schlacht zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis soll im 3000 Einwohner zählenden Ort Dabiq in Nordsyrien anbrechen, behaupten zumindest die IS-Ideologen. Sie beziehen sich dabei auf Hadith Nummer 6924. „Die letzte Stunde wird nicht kommen, bevor die Römer in al-A'maq oder in Dabiq landen. Eine Armee aus den besten Menschen der Welt wird aus Medina kommen, um sich ihnen entgegenzustellen“, heißt es in dem alten islamischen Text, der ähnlich den apokalyptischen Schilderungen in der Bibel eine letzte Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse schildert. In Hadith 6924 erscheint dann auch Jesus, der ja auch im Islam eine wichtige Rolle spielt, um den letzten aufrechten Anhängern Gottes beizustehen.

Der IS interpretiert die alte Endzeitvision als reales Geschehen und wartet darauf, dass in Dabiq die „Römer“ landen – also eine Armee, die aus dem Westen kommt. Die Fantastereien über die letzte Schlacht und das Ende der Welt sind dem IS so wichtig, dass er sein in vielen Sprachen erscheinendes Onlinemagazin „Dabiq“ genannt hat. Doch hinter der Extremistenorganisation steckt mehr als nur eine bizarre apokalyptische Ideologie. Es geht um Machtkämpfe lokaler Player im Irak und in Syrien.

Vom Rowdy zum Jihadisten

Um zu verstehen, was der IS ist und wie er an die Macht gelangen konnte, bedarf es einer Spurensuche, die in den 1980er-Jahren in der jordanischen Kleinstadt Zarqa beginnt. Dort machte der halbwüchsige Rowdy Ahmad Fadhil Nazzal al-Khalaylah die Straßen unsicher. Er soll bereits mit 15 an einem Raubüberfall beteiligt und zunächst dem Alkohol zugeneigt gewesen sein. 1989 reiste er nach Afghanistan. Dort ging gerade der Krieg gegen die Sowjetunion zu Ende. Aufseiten der Aufständischen kämpften zahlreiche junge Araber. Afghanistan wurde zur Brutstätte des „Jihadi-Salafismus“, einer Ideologie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Ägypten groß geworden war. Dabei soll mit Gewalt eine neue Gesellschaftsordnung errichtet werden, die sich an der Zeit des Propheten Mohammed und seiner unmittelbaren Nachfolger orientiert.

Ahmad Fadhil Nazzal al-Khalaylah wurde in Afghanistan von Scheich Abu Mohammed al-Maqdisi beeinflusst, einem wichtigen Vordenker des Jihadi-Salafismus. Nach einem Gefängnisaufenthalt in Jordanien ging Ahmad Fadhil Nazzal al-Khalaylah, der sich mittlerweile den Kriegsnamen Abu Musab al-Zarqawi gegeben hatte, erneut nach Afghanistan. Dort traf er Osama bin Laden, der mit anderen Ex-Kämpfern die jihadistisch-salafistische Organisation al-Qaida gegründet hatte.

Als die USA wegen der Attentate vom 11. September 2001 al-Qaida in Afghanistan angriffen, floh Zarqawi und setzte sich ins unwegsame Berggebiet an der irakisch-iranischen Grenze ab.

Nach dem US-Einmarsch im Irak 2003 beteiligte sich Zarqawi am Aufstand gegen die US-Truppen. Erst im Oktober 2004 schwor er bin Laden die Treue und benannte seine Gruppe in al-Qaida im Zweistromland um. Zarqawi überzog den Irak mit einer Terrorserie, die vor allem gegen Schiiten gerichtet war – etwas, das auch bei der al-Qaida-Führung auf Missfallen stieß. 2006 starb Zarqawi bei einem US-Luftangriff. An Einfluss gewann seine Organisation erst wieder ab 2010 unter ihrem neuen Anführer, Abu Bakr al-Baghdadi (siehe nebenstehendes Porträt).

Der Bruch mit al-Qaida

Der Islamische Staat im Irak (ISI), wie sich die al-Qaida-Gruppe mittlerweile nannte, verstärkte nicht nur die Terroraktionen im Irak. Er begann auch, im Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien mitzumischen. Syrische ISI-Veteranen schlossen sich mit syrischen Aufständischen zur al-Nusra-Front zusammen. Die Gruppe wuchs mithilfe von Geldgebern aus den reichen Golfstaaten rasch zur schlagkräftigen Einheit heran.

Im April 2013 verkündete Baghdadi die Verschmelzung des Islamischen Staates im Irak und der al-Nusra-Front zum Islamischen Staat im Irak und Sham (Großsyrien), kurz ISIS. Die al-Nusra-Führung weigerte sich aber, sich unterzuordnen. Dabei erhielt sie Rückendeckung der al-Qaida-Zentrale. Baghdadi startete nun einen brutalen Feldzug gegen al-Nusra und alle anderen jihadistischen Gruppen in Syrien, die sich ISIS nicht anschließen wollten. Das führte endgültig zum Bruch mit der alten al-Qaida-Führung. Sie wurde nun von ISIS als zu weich und vom „wahren Weg des Jihad“ abgekommen verhöhnt.

2014 schlug dann die große Stunde von ISIS. In den von sunnitischen Stämmen bewohnten Gebieten des Irak brach ein Aufstand gegen die schiitisch geprägte Regierung in Bagdad aus. Die Stämme fühlten sich in Iraks Machtgefüge nicht ausreichend repräsentiert. Und Anhänger des 2003 gestürzten Diktators Saddam Hussein hatten noch offene Rechnungen mit den neuen Herren in Bagdad. Im Juni 2014 übernahm eine Allianz aus Sunniten-Stämmen, einstigen Saddam-Militärs und -Funktionären sowie ISIS die Macht in Iraks zweitgrößter Stadt, Mossul. Als stärkste Kraft in dieser Allianz setzte sich schließlich ISIS durch. Er benannte sich in Islamischer Staat (IS) um und rief sein „Kalifat“ aus.

AUF EINEN BLICK

Die Ursprünge des Islamischen Staatesliegen in der Terrororganisation al-Qaida im Zweistromland. Später ging daraus die Gruppe Islamischer Staat im Irak (ISI) hervor. 2013 verschmolz er mit syrischen Kämpfern zum Islamischen Staat im Irak und Sham (ISIS) oder Islamischer Staat im Irak und der Levante, Arabisch ad-Dawlah al-Islamiyah fi 'l-Iraq wa-sh-Sham(DAIISH). In einem ausgesprochen klingt dieses Akronym aber im Arabischen wie „Jemand, der etwas zertrampelt“.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2015)

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