Flüchtlingskonferenz: Der „Geruch des Todes“ in der Ägäis

Bürgermeister aus der Krisenregion schilderten in einer ÖBB-Montagehalle in Wien-Spittelau ihre Nöte.
Bürgermeister aus der Krisenregion schilderten in einer ÖBB-Montagehalle in Wien-Spittelau ihre Nöte.(c) Stanislav Jenis
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André Heller initiierte eine Konferenz, die einen Kontrapunkt zur Kehrtwende der großen Koalition setzte. „Lasst uns nicht alleine“, beschworen Bürgermeister der Region.

Wien. An der einen Seite sind zum Teil brandneue Cityjet-Garnituren aufgefädelt, an der anderen ist der Artikel eins der Genfer Flüchtlingskonvention affichiert. In der ÖBB-Montagehalle in Wien-Spittelau ertönt ein Gong, der zur Eile drängt. „Now“ prangt als Logo an der grauen Wand, zusammengesetzt aus grell-bunten Schwimmwesten – Relikten, die Flüchtlinge an den Küsten der Ägäis zurückließen.

Die zugige, von Gleisen durchzogene Halle verströmt gleichsam die Aura des Exils, und um die Lage der Flüchtlinge, um virulente Fragen, Antworten und Lösungsansätze sollte sich bei der internationalen Konferenz auch alles drehen, die nicht ganz zufällig am 105. Geburtstag Bruno Kreiskys über die Bühne ging. Denn das Bruno-Kreisky-Forum firmiert als Mitorganisator, zusammen mit André Heller, Patricia Kahane und dem Traiskirchner Bürgermeister Andreas Babler. Sie war von langer Hand geplant, seit einem Lesbos-Urlaub von Freunden im August, die zu Nothelfern mutiert seien, wie Heller erzählt. Vom Timing setzte die Konferenz nun einen ganz bewussten Kontrapunkt zur Asylkonferenz und der Kehrtwende der großen Koalition in Wien in der Flüchtlingsfrage.

"Dumpfe Ängste" und "leichte Beute"

In seiner Eröffnungsrede sprach Heller den Zynismus der Politik an und die „dumpfen Ängste“, die zur „leichten Beute“ radikaler Kräfte würden. Auf Nachfrage der „Presse“ konkretisierte er die Kritik: „Dies ist die richtige Antwort auf die absurden Beschlüsse vom Mittwoch. Sie sind unverantwortlich, unvernünftig und unmenschlich. Keiner kann sich davonstehlen. Ich schäme mich.“
Die Politiker seien getrieben vom Populismus. Er sah sich erst recht darin bestätigt, keine „Großkopferten“ zu der Veranstaltung eingeladen zu haben – ganz zu schweigen von EU-Offiziellen. „Was die EU hier aufführt, ist ein Trauerspiel. Da fehlt es an Manieren.“ Auch ÖBB-Chef Christian Kern und Sonja Wehsely, die Wiener Sozialstadträtin, konterkarierten die Politik der Regierung. Kern betonte die gesellschaftliche Verpflichtung der ÖBB, Wehsely betrachtet die Krise als einen „Lackmustest für die Zukunft des Vereinten Europa“.

Danach hatten indessen die Betroffenen das Wort. In Workshops und Diskussionen erörterten Bürgermeister, Experten und Flüchtlinge die Ursachen für den Exodus, sie schilderten ihre Nöte und Ängste, ihre Überforderung, die Probleme für die Infrastruktur. Der Arbeitsmarkt sei durch die billigen Schwarzarbeiter völlig aus den Fugen geraten, der Wassermangel sei gravierend. „Fluchtgründe bekämpfen statt Fluchtrouten“, lautete das Motto einer Arbeitsgruppe.

Manche forderten eine aktive Friedenspolitik – und vielfach formulierten sie, wie der libanesische Bürgermeister Ali Mattar, einen Weckruf an den Westen: „Helft uns. Helft uns, zu helfen.“ Ein anderer beschwor die Europäer: „Lasst uns nicht alleine.“ Der Rückgang der internationalen Hilfe sei eine Katastrophe, beklagte einer. Libanon, Jordanien und die Türkei sind besonders schwer von der Flüchtlingskrise getroffen.

„Wir sind fast zu Vertriebenen im eigenen Land geworden“, so verzweifelt fasste Nazem Saleh, der Bürgermeister von Marej, die Stimmung im Libanon zusammen. In seiner Stadt leben 20.000 Flüchtlinge, ein Drittel davon haust in Zelten. Und in einigen Städten habe die Zahl der Flüchtlinge die der ursprünglichen Einwohner bereits übertroffen. Dabei hätten anfangs viele ihre Türen geöffnet, um den „Brüdern und Schwestern“ aus Syrien Obdach zu geben, wie ein jordanischer Kommunalpolitiker berichtet. „Wir sind ja verwandt und verschwägert. Wir dachten, in zwei Monaten sei alles vorbei.“ Demnächst, gab er zu bedenken, gehe der Syrien-Krieg ins sechste Jahr.

„Geografie ist Schicksal“

Türkische und griechische Bürgermeister saßen bei der Diskussion Seite an Seite. Ahmed Türk, ein Kurde aus der Stadt Mardin, monierte neben dem Überdruss durch die Flüchtlingskrise die Repression seines Volkes. „Es liegen Leichen auf den Straßen, die Angehörigen können die Toten nicht bestatten.“ Der neue Krieg Ankaras gegen die PKK fordert ihren Blutzoll. Er prophezeit sogar eine noch größere Flüchtlingswelle nach Europa.
„Geografie bedeutet Schicksal“, zitiert sein Kollege Fiat Anli ein Dichterwort. Er moniert, dass die EU sich als „Subunternehmer“ betätige und das Flüchtlingsproblem ausgerechnet an die Regierung in Ankara ausgelagert habe. Giorgios Kyritsis aus Kos sagt: „Wir gewöhnen uns langsam an die angeschwemmten Leichen, an den Geruch des Todes.“ Er appelliert: „Man kann Europa nicht zusperren. Wenn Europa die Augen verschließt, wird die EU zerbröckeln.“

AUF EINEN BLICK

Bürgermeisterkonferenz. Unter dem Titel N-O-W riefen André Heller, Patricia Kahane, der Traiskirchner Bürgermeister, Andreas Babler, und das Bruno-Kreisky-Forum zu einer internationalen Konferenz über die Flüchtlingskrise nach Wien, wo Bürgermeister der Region mit Experten, Studenten und Flüchtlingen über eine Lösung diskutierten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2016)

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