Tibet: „Sonst geben wir dich den Chinesen“

Former political prisoner Tibetan monk Golog Jigme poses for a photograph outside the Houses of Parliament in London
Former political prisoner Tibetan monk Golog Jigme poses for a photograph outside the Houses of Parliament in London(c) REUTERS (STEFAN WERMUTH)
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Der Mönch Golog Jigme kämpft seit seiner Jugend für Autonomie. Der Westen verkaufe die Werte der Tibeter für wirtschaftlichen Profit, kritisiert er im Interview.

Für den kleinen Jungen waren sie wie der Teufel, ein Bild des Schreckens: Wenn die grün uniformierten Soldaten in dem Nomadendorf im tibetischen Hochland auftauchten, verhieß es nichts Gutes, nur Gewalt und Mord. Golog Jigme kann sich noch an die Geschichten erinnern, die seine Eltern ihm als Kind erzählten. „Wenn du nicht brav bist, dann geben wir dich den Chinesen“, drohten sie. Damals waren es nur Geschichten, erzählt der 43-Jährige.

Früh, mit knapp 20 Jahren, trat der Menschenrechtsaktivist aktiv in die Widerstandsbewegung ein. Die Zerstörung tibetischer Klöster und Meldungen über tote oder inhaftierte Gelehrte holten den jungen Mönch in die Realität. „Als ich damals anfing, war ich bereit, mein Leben zu opfern. Gefängnis und Folter schienen mir der kleinste Beitrag für die Freiheitsbewegung zu sein“, sagt Jigme.

Der 10. März 1959 markiert den Beginn des erbitterten Widerstands der Tibeter. Damals begann der erste Aufstand gegen die chinesische Führung. Peking ließ die gewaltsamen Proteste blutig niederschlagen, der 14. Dalai Lama floh ins Exil nach Dharamsala in Nordindien. Seitdem kämpfen Tibeter für Autonomie und die Rückkehr ihres Oberhaupts. Nach 1959 wurde das einstige Tibet aufgeteilt, Han-Chinesen im Gebiet angesiedelt: Die heutige Autonome Region Tibet ist nur halb so groß wie das ursprüngliche rohstoffreiche Siedlungsgebiet.

Folter am "Tigerstuhl"

Zwei Mal saß der Menschenrechtsaktivist mehrere Monate in chinesischen Gefängnissen. Das erste Mal 2008. Das Jahr, in dem der dritte und bisher letzte Volksaufstand ausbrach. Wenige Monate vor Beginn der Olympischen Spiele hatte Jigme bei der Produktion des Kurzfilms „Leaving Fear Behind“ geholfen. Tibeter forderten darin zum Boykott des Sportevents auf. Im Gefängnis war der Mönch wochenlanger Folter ausgesetzt. Die Wärter schlugen und traten ihn, ließen ihn an Handschellen von der Decke baumeln, banden ihn an einen brennend heißen Ofen. Alles nichts im Vergleich zum „Tigerstuhl“ erzählt Jigme – Gefangene werden an Händen und Füßen an den Eisensessel gebunden, um sie während Befragung und Folter still zu halten. „Bis heute habe ich Angst, wenn ich mich an den Sessel erinnere.“ Tagelang musste er darauf büßen, bis ihm einmal die Zehennägel abfielen.

2012 gelang dem Mönch der Ausbruch aus dem Polizeigefängnis. 20 Monate versteckte er sich in den Bergen vor Chinas Behörden. 200.000 Yuan (rund 27.500 Euro) setzte die Polizei damals auf seinen Kopf aus. Der Vorwurf: Jigme habe einen Mord begangen. Damals sei er kurz davor gewesen, sich aus Protest selbst zu verbrennen. Letztlich habe er sich aber entschieden, „in einem sicheren Exil nicht nur meine eigene Geschichte, sondern auch über die verheerenden Zustände in Tibet zu erzählen“. 2014 gelang ihm die Flucht nach Indien. Im Jänner 2015 gewährte die Schweiz dem Tibeter politisches Asyl. Nun setzt er den Freiheitskampf in Europa fort. Noch immer fällt ihm der Abschied schwer, erklärt Jigme: „Ich bin zwar in Freiheit und Sicherheit. Aber viele, die mir nahe stehen, verschwinden in Tibet, werden festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt.“

"Werte nicht für Profit verkaufen"

Die chinesische Unterdrückung habe seit 2008 zugenommen, berichtet die Exilregierung. Gleichzeitig sei der Widerstand, vor allem unter jungen Tibetern, radikaler geworden. Immer lauter werden die Stimmen der Hardliner nach einer völligen Unabhängigkeit: Sie stemmen sich gegen den vom Dalai Lama propagierten „Weg der Mitte“, einer „echten Autonomie innerhalb Chinas“. Seit 2008 haben sich 152 Tibeter selbst in Flammen gesetzt. „Für mich sind das Märtyrer, die dramatischen Protest für unsere Sache gemacht haben“, meint Jigme.

Selbstverbrennungen seien eine Notalternative im Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit geworden. „Das Traurige ist, dass die Welt wegsieht.“ Anstatt Menschen zu unterstützen, die für gewisse Werte einstünden, unterstützten die Mächtigen China – einen Staat, der mit Waffengewalt gegen Tibeter vorgehe, sagt Jigme: „Man sollte unsere Werte nicht für wirtschaftlichen Profit verkaufen.“

Dennoch. Tibet werde eines Tages Unabhängigkeit erlangen, ist Jigme überzeugt. Dass die Freiheitsbewegung nach dem Tod des Dalai Lama untergehe, sei eine Fehleinschätzung. „China träumt einen großen Traum, aber es bleibt nur ein Traum.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2016)

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