Bill Clintons Obama-Kritik überschattet Vizekandidaten-Debatte

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RNPS IMAGES OF THE YEAR 2008(c) REUTERS (KEVIN KOLCZYNSKI)
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Der frühere Präsident und Ehemann der demokratischen Kandidatin lässt sich über Obamacare aus, das Königsprojekt von Präsident Obama. Die Mehrheit der Amerikaner lehnt diese Reform mittlerweile ab.

Washington. Eine neue verbale Entgleisung des Altpräsidenten Bill Clinton legt ein wesentliches Problem seiner Frau, der demokratischen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, offen: Wie kann sie die populären Aspekte des politischen Werks von Barack Obama für sich vereinnahmen und sich zugleich von dessen unbeliebten Reformen distanzieren? „Da haben wir dieses verrückte System, in dem plötzlich 25 Millionen mehr Menschen eine Gesundheitsversorgung haben“, sprach Bill Clinton am Montag bei einer Wahlkampfkundgebung in der Stadt Flint im Teilstaat Michigan. „Die Leute arbeiten wie irre, manchmal 60 Stunden pro Woche, und dann werden ihnen die Prämien verdoppelt und die Leistungen gekürzt. Das ist die verrückteste Sache der Welt.“

Mit dieser Kritik am Affordable Care Act, der im Jahr 2010 eingeführten Reform der Krankenversicherung in den USA, traf Clinton das Herzensprojekt Obamas. Mit keinem anderen politischen Vorhaben hat sich der scheidende Präsident derart identifiziert, vom landläufigen Ausdruck „Obamacare“ distanzierte er sich nie. Dieses System kommt dem Sprichwort von der Quadratur des Kreises sehr nahe: eine allgemeine Versicherungspflicht mit Geldbußen für jene Bürger, die keine Krankenversicherungspolizze abschließen, wurde mit milliardenschweren staatlichen Subventionen für Menschen kombiniert, die zwar zu arm sind, um sich auf dem freien Markt einen ausreichenden Schutz gegen medizinische Nöte zu kaufen, aber nicht arm genug, um in das staatliche System Medicaid zu fallen. Das gesetzliche Verbot, Menschen wegen chronischer Erkrankungen keine Versicherung zu verkaufen, sorgt erstmals dafür, dass niemand in den USA mit der Angst eines existenzgefährdenden medizinischen Notfalls leben muss.

Clintons Behauptung, 25 Millionen Amerikaner hätten auf diese Weise eine Krankenversicherung gefunden, ist zwar inkorrekt. Heuer kauften rund 13 Millionen Menschen auf den von Obamacare geschaffenen Onlineplattformen eine Polizze; das überparteiliche Congressional Budget Office hatte 21 Millionen erwartet und rechnet derzeit noch mit 27 Millionen für das Jahr 2017. Doch zweifellos ist die Zahl der Unversicherten stark gesunken.

Zu wenig Junge und Gesunde dabei

Das Problem daran: nicht genügend viele junge und gesunde Menschen versichern sich. Weil die Geldbußen im Vergleich zu den Prämienzahlungen zu niedrig sind, bleiben diese begehrten Kunden den Versicherungsmärkten fern. Das macht das Anbieten von Versicherungen für ältere, kränkere Menschen für die privaten Konzerne vielerorts zu einem Verlustgeschäft. Daher rühren stark verteuerte Prämien und die Kürzung des Leistungskatalogs. Diese Schwachstellen kritisierte Bill Clinton in Flint, nicht Obamacare als solches, wie er tags darauf eilig erklärte: „Obamacare hat enorm viel Gutes bewirkt.“

So eine differenzierte Argumentation kommt freilich fünf Wochen vor der Präsidentenwahl unter die Räder. Und so konnte Mike Pence, der Gouverneur von Indiana und Vizekandidat von Donald Trump, in der Nacht auf Mittwoch beim Rededuell mit Hillary Clintons Adjutanten Tim Kaine, dem Senator aus Virginia, die Obamacare-Kritik des Altpräsidenten genüsslich rezitieren: „Selbst Bill Clinton nennt das einen verrückten Plan.“

So stimmt das zwar nicht, aber Pence weiß um den Unmut im Volk. 54 Prozent lehnen den Affordable Care Act aus den erwähnten Gründen ab, nur 44 Prozent unterstützen ihn, ergab eine Umfrage des Pew Research Centers im April. Die Haltung in dieser Frage ist scharf nach Parteilichkeit getrennt: 78 Prozent der Demokraten sind für, 89 Prozent der Republikaner gegen Obamacare. Und selbst Gouverneur Pence hat eine recht ambivalente Haltung: während er auf der Rednerbühne gegen Obamacare hetzt, hat er dessen Subventionierung in seinem Staat Indiana unterstützt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2016)

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