Islamisten-Parteichef: "Europa hat Islam-Psychose"

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Hamadi Jabali, Generalsekretär der verbotenen tunesischen Islamisten-Partei Ennahda, fordert eine Beteiligung aller Kräfte an der neuen tunesischen Regierung. Als Vorbild sieht der die türkische AKP.

Die Presse: Was muss eine künftige tunesische Regierung als Erstes tun?

Hamadi Jabali: Man muss die Lage beruhigen. Das heißt zunächst eine Generalamnestie (diese Forderung hat die Regierung Mittwochabend erfüllt, auch alle Anhänger der islamistischen Ennahda sollen frei sein; Anm.). Allen politischen und gesellschaftlichen Kräften muss erlaubt werden, frei zu arbeiten, sich zu äußern und zu versammeln.

EU-Staaten, vor allem Frankreich, haben Ben Ali toleriert und unterstützt, weil er die islamistische Gefahr bannte.

Was den Islam betrifft, herrscht in Europa eine Psychose. Ich habe neun Jahre in Paris gelebt. Ich kenne die Mentalität in Europa. Ich habe versucht, Europäer zu verstehen. Es wäre gut, wenn die Europäer versuchten, den Islam zu verstehen. Bevor man jemanden verurteilt, sollte man mit ihm sprechen und ihm zuhören. Ben Ali hat die Vorurteile der Europäer genutzt, um seine Herrschaft zu stabilisieren.


Tunesien ist ein laizistischer Staat. Sind Sie für die Einführung von Elementen der Scharia in eine neue Verfassung?

Ihr Europäer denkt bei Scharia gleich an Hände, die man Eierdieben abhackt. Wenn man Hände abhacken müsste, dann Ganoven wie Ben Ali, die das Land ausgeplündert und eine Diktatur errichtet haben. Im Ernst: Welches Gesetz in Tunesien angewandt wird, haben nicht wir zu entscheiden, sondern das Volk. Wir sind für eine demokratisch legitimierte Macht.


In Tunesien sind die Frauen rechtlich den Männern quasi gleichgestellt. In Algerien und Marokko, wo die Islamisten politischen Einfluss haben, haben die Frauen weniger Rechte . . .

Gott hat den Frauen einen privilegierten Platz zugewiesen. Wenn in einer Familie Mann und Frau arbeiten, muss der Mann für die Familie sorgen. Die Frau kann mit ihrem Geld machen, was sie will.


Im Islam darf der Mann vier Frauen haben. Sie sind für Gleichberechtigung. Darf denn die Frau vier Männer haben?

Ich selbst habe nur eine Frau. Und das soll die Regel sein. Weitere Frauen darf ein Mann nur haben, wenn die erste Frau einverstanden ist und alle Frauen vom Mann gleich behandelt werden. Das ist doch fast unmöglich. Außerdem ist ja noch kein Mann je schwanger geworden. Bei der Frau weiß man bestimmt, dass sie die Mutter ihres Kindes ist, beim Mann nicht.

Ist Ihre Partei mit der konservativen AKP des türkischen Premiers Erdoğan zu vergleichen oder eher mit den ägyptischen Muslimbrüdern oder der palästinensischen Hamas?

Wir haben Affinitäten mit der AKP, und wir haben Respekt vor dem Kampf der Hamas gegen die israelische Besetzung.


Ihr Parteichef, Rachid el-Ghannouchi, hat in seinem Londoner Exil gesagt, er könne sich eine Regierungsbeteiligung vorstellen. Sie lehnen eine solche ab.

Ich weiß nichts von den Äußerungen el-Ghannouchis. Aber wir lehnen eine Beteiligung an der gegenwärtigen Regierung ab. Wir wollen eine Regierung, in der alle vertreten sind, ohne Ausnahme.


Auch die RCD, Ben Alis Staatspartei?


Wir sind gegen Einschränkungen. Aber schauen Sie auf die Straße: Das Volk hat sich gegen die Politik der RCD ausgesprochen. Wer in die Repression verwickelt ist, kann nicht an der Regierung beteiligt werden. Die RCD muss die Lehre aus diesen Tagen ziehen. Sie muss sich zurückziehen.


Mobilisieren Sie jetzt gegen die neue Regierung?

Wir haben keine funktionierenden Strukturen. Wir können gar nicht mobilisieren. Aber das ist auch gar nicht nötig. Die Leute gehen von sich aus auf die Straße.

Zur Person

Hamadi Jabali ist Generalsekretär der islamistischen Ennahda-Partei. Der Journalist hat neun Jahre im französischen Exil gelebt und war 16 Jahre in Tunesien im Gefängnis (1990 bis 2006). Seine Partei, Ennahda, ist noch immer illegal. Wie die kommunistische POCT hat man sie an der neuen Koalitionsregierung nicht beteiligt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2011)

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