Nach der Revolution: In der Hauptstadt Tunis ist Ruhe eingekehrt, doch in der Provinz gibt es weiter Gewalt.
Madrid/Tunis. Die Scherben sind zusammengekehrt, ausgebrannte Autowracks beseitigt, Fensterscheiben werden repariert. Ein starkes Polizeiaufgebot sichert in der tunesischen Hauptstadt Tunis die Avenue Habib Bourguiba, im Jänner Schauplatz tagelanger Massendemonstrationen und Straßenschlachten. Jener Ort, wo die tunesische Revolution, die Mitte Januar mit dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali (74) endete und dann auf Ägypten übersprang, ihre dramatischsten Stunden erlebte.
Inzwischen ist hier wieder weitgehend Ruhe eingekehrt. Geschäfte sind geöffnet, an den Kiosken liegen Zeitungen, die ohne Zensur über die Verhaftung des früheren Innenministers Rafik Belhaj Kacem berichten, dem die gewaltsame Unterdrückung der Proteste vorgeworfen wird. Heerscharen arbeitsloser Männer bevölkern die Straßencafés, Massen drängeln durch die engen, bunten Altstadtgassen.
Das Leben in den Provinzen scheint derweil noch ziemlich weit von Normalität entfernt zu sein: Aus mehreren Städten wurden zuletzt neue Unruhen gemeldet. In El Kef erschossen Polizisten am Samstag mindestens vier Demonstranten, die gegen die Machenschaften des lokalen Polizeichefs protestiert und das Kommissariat angegriffen hatten. In anderen Orten überfallen nach wie vor bewaffnete Banden, die Ben Ali nahestehen sollen, Geschäfte, Wohnhäuser, Schulen und Behörden.
„Die Regierung ruft alle auf, zur Arbeit zurückzugehen“, appelliert der Chef der Übergangsregierung, Mohamed Ghannouchi (69), an die Tunesier. Viele Bürger waren in den letzten Wochen, in denen Anarchie und Chaos regierten, aus Angst zu Hause geblieben. „Die Krise ist vorbei, stellen Sie sich den Herausforderungen.“ Die Wirtschaft, getragen von Tourismus und Textilfabriken, müsse schnell angekurbelt werden.
Großer wirtschaftlicher Schaden
Auch der wirtschaftliche Schaden des vierwöchigen Volksaufstandes, der mindestens 219 Menschen das Leben kostete, ist groß. Die Einbußen dürften das Land, dessen junge Generation gegen wachsende Armut und Arbeitslosigkeit auf die Barrikaden ging, in der Entwicklung weiter zurückwerfen. Mehr als eine Milliarde Euro an Einnahmeausfällen bilanzierte die Regierung.
Tourismusorte wie Hammamet oder Djerba, die jedes Jahr fast sieben Millionen Urlauber anziehen, sind verwaist: Viele Hotels haben zugesperrt, zehntausende Angestellte stehen auf der Straße. Der neue Tourismusminister Mehdi Haouas rührt schon wieder die Werbetrommel: Ausländer könnten ihre Ferien jetzt „in totaler Sicherheit und einer Atmosphäre absoluter Freiheit“ verbringen.
Tunesien steht nun vor der mühsamen Aufgabe, die Revolution in dauerhafte Reformen umzuwandeln. Noch muss die Übergangsregierung beweisen, dass sie es ernst meint mit „freien und transparenten Wahlen“. Der neue Außenminister Ahmed Ounais (75) reist jedenfalls munter durch Europa und verspricht, Tunesien werde sich in ein „politisch, wirtschaftlich und menschlich liberales Land“ verwandeln. Das ist auch die Hoffnung der Tunesier.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2011)