"Die Islamisten haben keine Lösungen für die Probleme der Menschen"

Islamisten haben keine Loesungen
Islamisten haben keine Loesungen(c) EPA
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Interview: Islam-Experte Abdullahi An'Naim hält es für falsch, extremistische Positionen in den Untergrund zu drängen.

Die Presse: Islamistische Bewegungen spielten bei den Revolutionen im arabischen Raum bisher eine marginale Rolle. Warum?

Abdullahi An'Naim: Die Menschen waren wegen realer Missstände gegenüber ihren Regimes aufgebracht. Außerdem glaube ich nicht, dass die Islamisten und ihr möglicher Einfluss auf die Politik im Denken der Leute in der Region so präsent sind wie im Westen. Gut informierte Personen in Ägypten oder Tunesien sind sich der Gefahr natürlich bewusst oder sogar besorgt, aber die Öffentlichkeit hat andere Sorgen: wirtschaftliche Entwicklung, Stabilität, Demokratisierung.


Aber der Einfluss solcher Gruppen könnte steigen.

Natürlich werden Islamisten in geöffneten politischen Systemen ihren Anteil haben, aber er wird nicht überwältigend sein oder gar den Prozess stören. Im Übrigen: Wann immer Islamisten an die Macht kommen, wird offensichtlich, dass es ihnen an Ideen mangelt, an der Fähigkeit zu regieren. Die Oppositionsrolle treibt ihnen Sympathien zu als Gruppe, deren Stimme unterdrückt wird. Aber sobald sie in den politischen Prozess gebracht werden, sieht man, dass sie keine Lösungen für die konkreten Probleme der Menschen haben.


Sie sagten, gut informierte Leute seien besorgt: Worüber genau?

Jede radikale Ideologie kann in den Verdacht geraten, den demokratischen Prozess zu benützen, um ihn zu unterminieren und an der Macht zu bleiben. Diese Gefahr ist auch real, ich unterschätze das nicht. Aber die Antwort kann nicht sein, die extremistischen Elemente zu unterdrücken, sondern sie in den politischen Prozess hineinzubringen – und dann aufzupassen, dass sie diesen Prozess nicht kapern.

Das gelingt nicht immer: Im Iran haben nach dem Sturz des Schahs die Theokraten die Revolution gekapert.

Stimmt. Aber dieses Problem ist nicht auf Islamisten beschränkt. Es ein generelles Problem liberaler Politik. Wenn es einen islamistischen Impuls gibt, ist es besser, damit in aller Öffentlichkeit umzugehen, als zu erlauben, dass es als eine Art Krebs im Körper der Politik wuchert. Ja, das ist riskant, aber nichts, was etwas wert ist, ist ohne Risiko zu haben. Das hat nichts mit Naivität zu tun.

Am Anfang war der Westen ja eben deshalb so zögerlich, die arabischen Revolutionen zu unterstützen: Man hatte Angst, die Diktaturen könnten durch theokratische Regimes ersetzt werden.

Es ist ein mögliches Szenario. Aber nur aus dieser Angst heraus darf man der Demokratisierung nicht die Unterstützung verweigern. Im Übrigen würden die Menschen in diesen Ländern durch eine Kaperung der demokratischen Institutionen mehr leiden als der Westen. Deshalb dürfen wir im Westen nicht sagen: Wir sind für Demokratisierung, aber nur, wenn das herauskommt, was wir wollen. Die Hamas ist ein gutes Beispiel. Da wurde die Gelegenheit verpasst, die Organisation gründlich zu besiegen. Die Hamas wäre heute aus dem Spiel, wenn man ihr zunächst ihren demokratisch errungenen Wahlsieg gelassen hätte. Das gleiche gilt für Algerien. Die FIS (deren nicht anerkannter Wahlsieg 1991 den Bürgerkrieg auslöste, Anm.) wäre längst Geschichte; statt dessen erlebte das Land einen blutigen Bürgerkrieg.

Wie sollte sich der Westen also verhalten?

Europa muss in Demokratisierung im Nahen Osten investieren. Das ist die beste Gewähr für langfristige Sicherheit und Stabilität. Sehen Sie mal Osteuropa an und die Bemühungen, dort demokratische Institutionen aufzubauen nach dem Sturz der kommunistischen Regimes. Dasselbe sollte im Nahen Osten passieren, wenn wir wirklich universellen Werten verpflichtet sind und nicht denken „Europa ist etwas besonderes, der Rest der Welt ist rückständig“. Man muss die unterstützen, die den Wandel in Ländern wie Libyen, Bahrain oder Jemen anstreben, trotz der kurzfristigen Risiken für die sogenannten „westlichen Interessen“, denn langfristig wird diesen Interessen so mehr gedient – nicht zu reden von denen der Menschen in der Region.


Welche Rolle wird die Scharia in den postrevolutionären Systemen spielen?

Die Scharia kann nie staatliches Gesetz sein, sie ist ein normatives religiöses System, das das private Leben der Gläubigen regelt. Wenn man es in das staatliche Recht einbringt, wird aus einem religiösen Recht für Muslime ein politischer Wille des Staates. Man kann daher auch nicht sagen, dass der Iran oder Saudiarabien die Scharia vollstrecken – weil sie von einem Staat nämlich gar nicht implementiert werden kann.


Aber genau das nehmen diese Staaten für sich in Anspruch.

Ja. Die Faschisten haben auch eine rassische Überlegenheit behauptet, aber war es deshalb wahr? Die Einstellung der Europäer spielt den Islamisten nur in die Hände und schadet den Liberalen in der Region. Wo immer solche falschen Behauptungen aufgestellt werden, muss man ihnen entgegentreten. Und das geht im demokratischen Rahmen viel besser als in einem autoritären. Mubarak hat die Opposition in Ägypten im Namen des Kampfes gegen den Islamismus unterdrückt. Jetzt, 30 Jahre später, zeigt es sich, dass die Muslimbruderschaft nicht an Boden verloren hat, im Gegenteil. Und zwar genau wegen der autoritären Politik.

Das Interview ist Teil der Reihe "Das säkulare Zeitalter. Glaube und Unglaube in friedloser Koexistenz. Ein Themenschwerpunkt in Kooperation mit dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen".

Zur Person

Abdullahi Ahmed An'Naim ist Professor für Recht an der Emory University in Atlanta, US-Bundesstaat Georgia. Der gebürtige Sudanese, der in Khartum, Cambridge und Edinburgh studierte, beschäftigt sich intensiv mit dem islamischen Recht und dessen Verhältnis zum säkularen Staat. [privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2011)

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