Ägypten: „Sie stehlen uns unsere Revolution“

(c) EPA (MOHAMED OMAR)
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Wie vor dem Sturz Hosni Mubaraks protestieren auf dem Tahrir-Platz die Massen. Und wie damals geht die Polizei brutal gegen die Demonstranten vor. Bis zum Nachmittag wurden angeblich 600 Verletzte gezählt.

Die Szenen sind den Ägyptern nur zu bekannt: Was sich am Mittwoch rund um den Tahrir-Platz und in den Seitenstraßen beim Kairoer Innenministerium abspielte, ähnelte dem Höhepunkt des Aufstandes gegen den gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak: Mehrere tausend Demonstranten haben sich auf dem Tahrir versammelt und spielen in den angrenzenden Seitengassen Katz und Maus mit der Bereitschaftspolizei. Und die geht seit der Nacht zum Mittwoch brutal gegen die Demonstranten vor.

Über den Straßen hing auch am Mittwochmittag noch der Dunst von Tränengas. Die Jugendlichen errichteten an vielen Stellen Barrikaden. Die Auseinandersetzungen – es sind die blutigsten seit dem Sturz Mubaraks Mitte Februar – dauern an. Immer wieder wurden am Mittwoch Verletzte aus den vorderen Linien zu den Krankenwagen am Rand des Platzes gebracht. Immer mit der gleichen Methode: auf Motorrädern. Einer fährt, einer sitzt auf dem Rücksitz, in der Mitte ist der blutende oder ohnmächtige Verletzte geklemmt. Viele dürften durch Gummigeschosse verwundet worden sein. Bis zum Nachmittag wurden angeblich 600 Verletzte gezählt.

„Prozesse hinausgezögert“

„Das ist wie in alten Zeiten, die Polizei deckt uns mit Tränengas ein, dann greifen uns die zivilen Schlägertrupps an“, erzählte der Student Haissam Ragab, der sich für das Gespräch kurz seinen Mundschutz heruntergezogen hat. Er soll ihn gegen das Tränengas schützen: „Wir sind sauer, weil die Prozesse gegen Mubarak und die seinen immer wieder hinausgezögert werden“, sagte der 21-Jährige. „Sie veranstalten ein Theaterstück und hoffen auf unser Vergessen, aber da haben sie sich getäuscht“, schimpfte er.

Es war besonders der Prozess gegen den ehemaligen Innenminister Habib Adli, dessen Urteilsspruch diese Woche erneut vertagt wurde (auf den 25. Juli), der das Fass für viele der jungen Demonstranten nun endgültig zum Überlaufen gebracht hatte. Bei dem Prozess geht es um die Tötung von Demonstranten in den Wochen vor dem Sturz Mubaraks.

Auch die junge Studentin Zeinab Khattab ist gekommen, weil ihr langsam der Geduldsfaden reißt: „Die Toten der Revolution waren bisher umsonst, viel zu wenig hat sich verändert und alles geht viel zu langsam“, machte sie ihrem Ärger Luft. „Sie stehlen uns unsere Revolution oder versuchen, sie einzuschläfern“, sagte sie. Denn die Militärs könnten einfach nicht damit umgehen, dass nun das Volk die Macht habe. Besonders erzürnt sind die Demonstranten, dass die staatlichen Medien sie als Schlägertrupps verunglimpfen: „Sie drehen einfach alles um und sagen, die Polizei ist unschuldig und das Volk, das sind die Schläger“, sagte Hisham Adli, ein Beamter im ägyptischen Kulturministerium.

Manche Ministerien hätten begonnen, sich von innen zu erneuern. Im Innenministerium und im Militärrat sei dagegen nichts geschehen, meinte er. Die Polizei sei ein „Psychofall“, sie könnte einfach nicht damit umgehen, dass sie in der Revolution die Schlechten und die Demonstranten die Guten gewesen seien, erklärte er.

Unbeliebter Chef des Militärrats

Hatten die Demonstranten während des Aufstands gegen Diktator Hosni Mubarak immer wieder dessen Sturz gefordert, steht bei ihnen jetzt Feldmarschall Muhammad Tantawi ganz oben auf der Liste, der Chef des obersten Militärrates, der kommissarisch das Land verwaltet. Immer wieder fordern sie dieser Tage in Slogans dessen Rücktritt: „Tantawi ist ein Mann des alten Regimes, und er ist dafür verantwortlich, dass die Prozesse gegen die Vertreter des Mubarak-Regimes immer wieder hinausgezögert werden“, glaubt die Studentin Zeinab Khattab.

Etwas unklar ist, wie die neuste Eskalation auf den Straßen Kairos eingeläutet worden ist. Nach Aussagen vieler Demonstranten hatten Schlägertrupps eine Gedenkveranstaltung für die Toten der Revolution im Kairoer Stadtteil Agouza gestürmt. Die angerückte Polizei nahm statt der Schläger allerdings Mitglieder der Familien der Toten fest. Daraufhin wurde über Facebook und Twitter zu den neuen Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz und vor dem Innenministerium mobilisiert.

Wachsende Kluft

Der oberste Militärrat hielt dagegen: „Die bedauernswerten Ereignisse auf dem Tahrir-Platz können nicht gerechtfertigt werden und unterwandern die Stabilität und Sicherheit Ägyptens, nach einem Plan, der das Blut der Märtyrer der Revolution missbraucht, um eine Kluft zwischen den Revolutionären und dem Sicherheitsapparat zu schaffen“, hieß es in einer Erklärung. Am Mittwochnachmittag war auf den Straßen Kairos diese Kluft so breit, wie ein Stein oder eine Tränengasgranate fliegt. Und es machte nicht den Eindruck, als sei eine der beiden Seiten bereit, sich zurückzuziehen.

Hintergrund

Massendemonstrationen führten am 11. Februar zum Rücktritt des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak. In den Wochen davor töteten die Sicherheitskräfte hunderte Regimegegner. Derzeit herrscht ein Militärrat, in dem allerdings Kräfte des alten Regimes den Ton angeben. Immer wieder kommt es daher zu neuen Protesten, zuletzt am Mittwoch. Zusehends lassen die neuen Machthaber auch die Polizei wieder gewaltsam gegen die Demonstranten vorgehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2011)

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