Der Revolutionär aus Österreich

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Reportage vom 2. 10. Er wuchs in Wien auf, besuchte hier die Universität. Doch dann wurde Abdel in Libyen, der alten Heimat seiner Eltern, von der Revolution überrascht. Und aus dem Studenten wurde ein Widerstandskämpfer.

Abdel (Name geändert) schüttelt den Kopf. „Wenn Sie mir vor einem Jahr gesagt hätten, dass ich einmal als Revolutionär gegen Gaddafi kämpfe, hätte ich Sie ausgelacht.“ Alles schien im Leben des jungen Österreichers zunächst so zu verlaufen wie in dem Tausender seiner Altersgenossen. Abdel wurde in Österreich als Sohn libyscher Eltern geboren. Er ging in Österreich zur Schule, maturierte, begann zu studieren. Jetzt kuriert der junge Mann in seinem Elternhaus in der libyschen Hauptstadt Tripolis einen Bänderriss im linken Fuß aus, den er sich bei den Aktionen der vergangenen Wochen zugezogen hat. Und er erzählt vom Aufstand gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi, von den Gefechten in den Straßen und davon, wie aus ihm, dem Studenten, ein Freiheitskämpfer wurde.

Abdel hatte Libyen nur aus dem Urlaub gekannt, von Besuchen bei Verwandten. Bis vor einem Jahr, als er in die alte Heimat seiner Eltern ging, um zu studieren. Einige Monate später brach die Revolution los.

Abdel und die anderen protestierten zuerst friedlich. Doch das Regime schlug mit aller Härte zurück. „Hier in der Nähe liegt der Militärstützpunkt Mitiga. Von dort sind sie ausgerückt, um uns anzugreifen.“ Gaddafis Getreue setzten alles ein, um den immer stärker werdenden Widerstand zu brechen: Erst feuerten sie mit Kalaschnikows in die Demonstrationszüge, dann mit großkalibrigen Waffen, die eigentlich zur Luftabwehr dienen. Da Kundgebungen in Blut ertränkt wurden, begannen Gaddafis Gegner in der Hauptstadt zu neuen Strategien überzugehen. Sie bauten kleine Sprengsätze, die sie in der Nacht auf die gepanzerten Autos der Sicherheitskräfte warfen.

Kalaschnikows aus Bengasi. Die Revolutionäre in Tripolis begannen, geheime Waffendepots anzulegen. „Einige Offiziere in der Armee waren gegen Gaddafi und gaben Ausrüstung an die Aufständischen weiter“, schildert Abdel. „Ab Juni kamen dann auch Waffen aus Bengasi – keine schweren Waffen, sondern Kalaschnikows und Ähnliches.“ Fischer holten die Sturmgewehre in ihren Booten aus der Rebellenhochburg im Osten Libyens ab und schmuggelten sie in der Nacht an die Küste vor Tripolis. Die Widerstandsgruppen in der Hauptstadt rüsteten für den Zeitpunkt auf, an dem es galt, loszuschlagen und das Regime zu verjagen. Dieser Tag war der 20. August.

„Ich bekam meine Waffe erst Stunden, bevor der Aufstand begann“, erinnert sich Abdel. „Einer meiner Freunde brachte ein belgisches FN-Sturmgewehr zu mir nach Hause. Er saß hier auf dem Sofa, genau dort, wo Sie jetzt sitzen, und erklärte mir in nur etwa zehn Minuten, wie das Gewehr funktioniert.“ Abdel hatte nie zuvor eine Waffe in der Hand gehalten. „Ich war Student, kein Soldat.“ Aus dem jungen Mann aus Österreich war endgültig ein Widerstandskämpfer geworden.

„Das alles war für mich nicht einfach. Ich hätte mir das nie vorstellen können. Aber wir hatten keine andere Chance.“ Abdel atmet tief durch. „Wenn man sieht, wie andere Menschen gedemütigt, gefoltert und umgebracht werden, muss man einfach etwas tun. Auch in Österreich würden die Menschen nicht tatenlos zusehen.“

Sein Freund übergab Abdel nicht nur die Waffe. Er instruierte ihn auch über das weitere Vorgehen an diesem 20. August, dem Tag des bewaffneten Aufstandes in Tripolis. Es war gerade Ramadan, und nach Einbruch der Dunkelheit begann das Fastenbrechen. „Er sagte zu mir: Iss ganz schnell und schau, dass du eine Viertelstunde nach Sonnenuntergang wieder auf der Straße bist! Dann greifen wir Gaddafis Leute an.“ Und Abdel war auf der Straße, gemeinsam mit unzähligen anderen.

Das Signal zum Losschlagen kam von den Minaretten der Moscheen. „Allahu Akbar – Gott ist groß“, tönte es von dort oben – zu einer Uhrzeit, an der normalerweise keine Gebete über die Lautsprecher verbreitet wurden. Abdel und die anderen sperrten die Straßen mit brennenden Autoreifen. Sie schütteten Diesel auf die Fahrbahn, damit heranbrausende Autos der Gaddafi-Truppen ins Schleudern gerieten.

Jetzt galt es, die Scharfschützen auszuschalten, die von zwei Hochhäusern auf die Revolutionäre feuerten. „Wir riefen sie über Lautsprecher auf, zu kapitulieren“, erzählt Abdel. „Wir sagten ihnen: Es hat keinen Sinn, wir sind viel mehr als ihr. Wir sind doch alle Brüder und sollten einander nicht wegen dieses Tyrannen bekämpfen.“ Die meisten gaben auf. „Die Hochhäuser waren frei und wir haben ganz oben die neue libysche Fahne gehisst.“

„Ich vermisse Wien.“ Abdel ist zuversichtlich, dass sich in Libyen alles zum Besseren wendet. Die Gefahr neuer Kämpfe zwischen den Rebellenfraktionen sieht er nicht. „Natürlich gibt es sehr unterschiedliche Gruppen. Aber ich bin sicher, dass sie sich in Zukunft mit politischen Mitteln messen werden.“ Auch für Ängste vor einem radikalen Islam sieht er keinen Grund: „Die Libyer sind sehr religiös und vom Islam geprägt – aber vom richtigen Islam und nicht von diesem al-Qaida-Schwachsinn.“ Der junge Mann will zurück nach Österreich, um wieder die Universität zu besuchen. „Ich habe dort viele Freunde, und ich vermisse Wien.“ Vielleicht wird Abdels Leben dann erneut in denselben Bahnen verlaufen wie das Leben tausender anderer Österreicher in seinem Alter.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2011)

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