Juncker muss mit Europaparlament feilschen

Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker (c) imago/Xinhua (imago stock&people)
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Der designierte Kommissionspräsident spricht heute mit Chefs der Parlamentsfraktionen über die Problemfälle in seinem Team – allen voran über den Ungarn Tibor Navracsics und die Slowenin Alenka Bratušek.

Brüssel. Die Odyssee um die Neubesetzung der EU-Kommission neigt sich ihrem Ende zu. Am Donnerstag werden die Anhörungen der 27 Kandidaten für die Posten in der Brüsseler Behörde für beendet erklärt. Obwohl Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker von einer großen Koalition aus Sozialdemokraten (S&D) und Europäischer Volkspartei (EVP) auf den Schild gehoben wurde, liefen die Hearings nicht reibungslos ab – bis zum Schluss war nicht klar, ob nicht ein oder mehrere Mitglieder des Teams vom EU-Parlament die rote Karte erhalten. Die Entscheidung darüber soll im Laufe des heutigen Tages fallen.

1. Wie viele Kommissare in spe gelten als besonders gefährdet?

Derzeit drei: der Brite Jonathan Hill, der das Portfolio Finanzmarkt übernehmen soll, der Ungar Tibor Navracsics (Kultur und Bildung) sowie die Slowenin Alenka Bratušek, die als Vizepräsidentin für die Energieunion zuständig sein soll. Grünes Licht gab es gestern hingegen für die designierte Justizkommissarin Věra Jourová aus Tschechien.

2. Welche Vorwürfe werden den drei Wackelkandidaten gemacht?

Bratušeks Ablehnung durch das Parlament deutete sich gestern an. Sie konnte inhaltlich nicht überzeugen, außerdem wurde ihre Nominierung bekrittelt – sie sich selbst ins Rennen geschickt. Hill gilt manchen als nicht geeignet für die Aufsicht über die Bankenunion, der Großbritannien selbst nicht angehört. Zudem gibt es Zweifel an seiner Sachkenntnis sowie an seiner Vergangenheit als Lobbyist. Konsequenz: Hill musste gestern ein zweites Hearing über sich ergehen lassen. Klar ist bereits, dass das Parlament Navracsics nicht das Kultur- und Bildungsressort anvertrauen möchte – der zuständige Ausschuss forderte Änderungen an seinem Portfolio.

3. Was wird Jean-Claude Juncker nun unternehmen?

Er trifft heute mit den Chefs der Parlamentsfraktionen zusammen, um über die aufgetretenen „Hindernisse“ zu sprechen. Aus seinem Stab hieß es zuletzt, dass es keinen „PlanB“ zur Neugestaltung der Kommission gebe. Eine vergleichsweise einfache Möglichkeit zur teilweisen Entschärfung der Lage betrifft Navracsics, dem die Agenda Bürgerrechte abgenommen werden könnte, um die Europaabgeordneten zu beschwichtigen – als Mitglied in der Regierung von Viktor Orbán war er nämlich für die umstrittene Medienreform zuständig. Junckers Problem: Sobald er anfängt, Kandidaten zu versetzen, ist es vorbei mit dem fein austarierten Gleichgewicht zwischen Parteien, Regionen und Geschlechtern.

4. Was passiert, wenn Juncker und das EU-Parlament uneins bleiben?

Am 22. Oktober soll das Europaparlament der Kommission sein Vertrauen aussprechen – tut es das nicht, kann Junckers Team nicht wie geplant am 1. November mit der Arbeit beginnen, die amtierende Kommission würde interimistisch im Amt bleiben. Zuletzt wurde spekuliert, dass eine Verzögerung Juncker nicht unrecht wäre – er wäre dann nämlich von der undankbaren Aufgabe befreit, zum Amtsantritt Frankreich und Italien für ihre Budgets rügen zu müssen.

5. Apropos Frankreich: Wie steht es um Pierre Moscovici?

Der Kandidat für den Posten des Wirtschafts- und Finanzkommissars musste bis gestern, 18 Uhr, 22 zusätzliche Fragen schriftlich beantworten – in der EVP gab es Unmut darüber, dass der ehemalige Finanzminister des seriellen Defizitsünders Frankreich fortan über die Einhaltung der EU-Budgetregeln wachen soll.

6. Ist seine Kandidatur also auch gefährdet?

Eher nicht. Der französische Sozialist ist nämlich eine wichtige Figur im Kräftespiel zwischen EVP und S&D. Würde die Volkspartei Moscovici aus dem Rennen werfen, würden die Sozialdemokraten im Gegenzug den Kopf von Miguel Arias Cañete fordern – dem spanischen Kandidaten für den Posten des Energie- und Klimakommissars wurden Verbindungen zur Ölindustrie vorgeworfen. Der parlamentarische Justizausschuss sprach ihn aber bereits vom Vorwurf des Interessenkonflikts frei – was darauf hindeutet, dass die EVP im Gegenzug Moscovici in Ruhe lassen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2014)

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