„Die Welt ist voll von Geschichten“

Die Kinderbuchautorin Judith Kerr (85) glaubt nicht an ein Ende des Lesens.

Die Presse: Wir lesen sehr viel darüber, dass Kinder heute nicht mehr lesen. Woran liegt das?

Judith Kerr: Weil sie nicht lesen müssen. Alle Kinder lieben Geschichten. Als wir Kinder waren – das ist schon lange her – musste man lesen, wenn man eine Geschichte erfahren wollte, denn es gab ja nichts anderes. Und jetzt bekommen die Kinder eben Geschichten im Fernsehen. Ich glaube, das ist der einzige Grund.

Teilen Sie die Sorge, dass Kinder heute nicht mehr lesen?

Kerr: Ich wäre besorgt darüber, wenn es so wäre. Aber ich bin mir da nicht sicher. Natürlich ist es schrecklich, wenn wir hören, dass Kinder nicht mehr lesen. Aber es hat immer Menschen gegeben, die nicht lesen. Es braucht Eltern, die sich darum bemühen, die es vermitteln, dann lernen es die Kinder. Das braucht sehr viel Zeit, die fehlt heute oft.

Gibt es aber heute nicht auch viel zu viel andere Unterhaltung für Kinder?

Kerr: Die Welt ist doch voll von Geschichten. Das findet eben in verschiedensten Medien Ausdruck.

Macht es aber einen qualitativen Unterschied, ob man eine Geschichte in einem Buch liest oder etwa im Fernsehen sieht?

Kerr: Ja, das ist etwas ganz anderes. Aber in seiner Art ist beides gut. Ein guter Film, das ist doch ebenfalls wunderbar. Man muss wählen können.

Kann ein Kind schon wählen, oder braucht es eine Grundlage von Geschichten, die von Eltern oder Großeltern vorgelesen werden?

Kerr: Das ist die Idee der Gute-Nacht-Geschichte, die gerade in England weit verbreitet ist. Mir hat niemand eine Geschichte zum Schlafengehen vorgelesen, und wir waren ein sehr literarischer Haushalt. Ich habe dann aber meinen Kindern vorgelesen oder Geschichten für sie erfunden, und das war auch der Ausgangspunkt für mich, Bücher zu schreiben.

Wie sind dann Sie im Elternhaus zum Lesen gebracht worden?

Kerr: Oh nein, zum Lesen gebracht worden bin ich nicht! Ich konnte doch gar nicht damit aufhören.

Ist das Buch an sich bedroht?

Kerr: Das glaube ich nicht. Das ist doch sehr interessant: Geben Sie einem kleinen Kind ein Bilderbuch, und es wird sich damit beschäftigen. Schon die ganz kleinen Kinder lieben das, sie blättern um, sie beginnen, etwas zu erkennen, sie können damit etwas anfangen.

Lesen Sie Ihren Enkelkindern (sieben und viereinhalb Jahre alt) vor?

Kerr: Das macht mein Sohn (der Schriftsteller Matthew Kneale, Anm.). Er liest jetzt seinem Sohn jene Bücher vor, die er einst als Kind geliebt hat. So geht das immer weiter. Das ist doch wunderbar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2008)

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