Den Rechtsstaat gegen Terror rüsten

Police react to a suspicious vehicle near La Carillon restaurant following a series of deadly attacks in Paris
Police react to a suspicious vehicle near La Carillon restaurant following a series of deadly attacks in ParisREUTERS
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Neue Form des Kriegs. Die Sicherheitsverfassung sollte an die aktuelle Bedrohungslage infolge des Terrorismus angepasst, die Abwehr auch mit militärischen Mitteln ermöglicht werden. Ein Plädoyer.

Wien. Den barbarischen Terroranschlag in Paris mit mindestens 129 Toten in der Nacht auf Samstag sieht Frankreichs Präsident Hollande als „Kriegserklärung“. Frankreich – so der Präsident – sei vom IS als „ausländische Armee angegriffen“ worden. Hollandes Aussage über den Kriegszustand ist nicht nur politisch zu verstehen: Der Ausnahmezustand wurde verhängt, die Straßen sind leer, öffentliche Einrichtungen wurden gesperrt, Kirchen und Touristenattraktionen bleiben geschlossen, es gilt ein Demonstrationsverbot.

Solche Maßnahmen werfen die Frage auf, ob sich der Rechtsstaat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen und wie weit er dabei gehen kann, ohne zum Unrechtsstaat zu werden. Das Dilemma – wie der deutsche Staatsrechtslehrer Depenheuer formuliert – ist, dass der Staat im „Krieg gegen den Terror“ weiterhin zu rechtsgebundenem Handeln verpflichtet ist, während der Terrorist sich das Recht gewaltsam nimmt und „seinen unsichtbaren Kampf [. . .] personalisiert und entterritorialisiert“ führt. Darf ein Staat notfalls Unschuldige opfern, wenn dies zur Terrorabwehr erforderlich ist? Sind in einem solchen Konflikt die Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben, suspendiert, oder sind dem Rechtsstaat die Hände gebunden? Es scheint so: Das viel beachtete Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz hat die Ermächtigung der Streitkräfte, Flugzeuge bei Terrorakten abzuschießen, mit dem Recht auf Leben und der Menschenwürde für unvereinbar erachtet. Der Rechtsstaat dürfe seine Bürger bei terroristischen Akten nicht opfern.

Der Grund dafür ist, dass die Sicherheitsverfassungen der meisten Demokratien nicht auf hybride Bedrohungen durch Terrorismus ausgerichtet sind. Ihnen liegt die herkömmliche Dichotomie der Verteidigung gegen Angriffe von außen (Krieg), den die Streitkräfte mit Militärgewalt abwehren können, und des Schutzes der verfassungsmäßigen Ordnung im Inneren durch die leicht bewaffnete Polizei zugrunde. Selbst wenn das Militär zur Abwehr innerstaatlicher Gewalt einschreiten sollte, gelten die Regeln des Polizei-, nicht des Kriegsrechts. Sollten künftig Bundesheersoldaten, wie dies die Österreichische Sicherheitsdoktrin vorsieht, kritische Infrastruktur (wie Flughäfen) gegen Anschläge schützen, ist das ein sicherheitspolitischer Assistenzeinsatz und kein Krieg.

Das macht aber einen entscheidenden Unterschied: Bei kriegerischen Kampfhandlungen verdrängen die Regeln des Humanitären Völkerrechts (HVR) den Menschenrechtsschutz weitgehend, weil der Kombattant das Recht hat, den Gegner zu töten. Verhältnismäßigkeit beim Waffengebrauch spielt nur eine untergeordnete Rolle. Da sich in der Realität bewaffneter Konflikte nicht vermeiden lässt, dass Zivilpersonen und zivile Objekte durch Angriffe auf militärische Ziele in Mitleidenschaft gezogen werden, nimmt das HVR sog. zivile Kollateralschäden grundsätzlich hin. Unschuldige dürfen daher im Krieg – freilich nicht schrankenlos – geopfert werden. Unter bestimmten Voraussetzungen sind im Krieg sogar gezielte Tötungen – etwa durch Spezialeinheiten oder Drohnen – einzelner Personen außerhalb des eigentlichen Kampfgeschehens erlaubt, wenn dies als letztes Mittel zur Gefahrenabwehr notwendig ist.

Der jüngste Terroranschlag zeigt, dass die herkömmliche Unterscheidung von „Normallage“ (Gefahrenabwehr durch die Polizei) und Ernstfall (Militär) seine Bedeutung verloren hat (Depenheuer) und den Staat hindert, einer der fundamentalsten Staatsaufgaben, der Gewährleistung der Sicherheit seiner Bürger, nachzukommen. Das Verhältnis zwischen Normallage und Ernstfall muss dabei ebenso überdacht werden wie die althergebrachte Aufgabenverteilung Polizei/Militär. Der Terror bedroht den Staat und seine Werte genauso in seinem Bestand wie der „Schießkrieg“ auf dem Schlachtfeld. Daher muss der Staat im terroristischen Ernstfall – ohne die demokratischen Werte und die Menschenrechte außer Acht zu lassen – mit ähnlichen Instrumenten zur Bekämpfung des Feinds wie im konventionellen Krieg ausgestattet werden und der Bürger temporär Einschränkungen seiner Freiheit in Kauf nehmen.

Bis hin zu unschuldigen Opfern

Dabei geht es nicht nur um Lauschangriffe, Rasterfahndungen usw., sondern auch darum, dass der Staat bei einem (drohenden) Terroranschlag nicht tatenlos zusehen muss; in letzter Konsequenz muss er in einer tragischen Konfliktlage wie etwa der des Abschusses eines Flugzeugs genauso wie Soldaten im Krieg auch Unschuldige zur Verteidigung des Gemeinwesens opfern können, weil der Terrorismus einem Verteidigungsfall gleichzuhalten ist. Oder es muss möglich sein, Terrorangriffe gegen kritische Infrastrukturen militärisch auch unter Inkaufnahme von Kollateralschäden abzuwehren. Es ist daher unabdingbar, das Sicherheitsverfassungsrecht an die geänderte Bedrohungslage anzupassen. Ohne Sicherheit gibt es nämlich keinen Staat und ohne den Staat keine demokratische Rechtsstaatlichkeit.


RA Priv.-Doz. Dr. Bernhard Müller wurde 2009 für „Öffentliches Recht“ habilitiert und ist externer Dozent am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2015)

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