Homöopathische Liberalisierung

Arzneien gehören nicht in Supermarktregale, meint die Apothekerkammer.
Arzneien gehören nicht in Supermarktregale, meint die Apothekerkammer.(c) Clemens Fabry
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Der freie Verkauf von Arzneimitteln lässt auf sich warten, die Bedarfsprüfung für neue Apotheken ist weiterhin aufrecht. Aber schleichend wird auch das Apothekenwesen geöffnet.

Wien. Geschützte Berufe und Quasimonopole sind der EU seit Jahren ein Dorn im Auge. Auch das heimische Apothekenwesen bleibt davon nicht verschont. Ein Urteil oder eine Gesetzesnovelle, die das seit Jahrzehnten bestehende System unumkehrbar aus den Angeln hebt, hat es bis dato allerdings nicht gegeben. Vielmehr ist eine schleichende Liberalisierung an mehreren Stellen zu beobachten. Arzneimittel dürfen in Österreich nur durch Apotheken abgegeben werden. Die Neuerrichtung einer öffentlichen Apotheke ist nur möglich, wenn den bestehenden Apotheken ein Versorgungspotenzial von zumindest 5500 Personen verbleibt. Dieser Apothekenvorbehalt sowie das Bedarfsprüfungssystem sind zwei der wichtigsten Grundsätze des heimischen Apothekenwesens. Jahrzehnte galten sie als unumstößlich. Allerdings wurden sie im Lichte des generellen Trends der EU zur Aufweichung geschützter Berufe immer stärker ausgehöhlt. Für viele ein längst überfälliger Schritt zur besseren Versorgung der Bevölkerung, für andere der wirtschaftliche Ruin ländlicher Apotheken.

Rezeptfrei heißt nicht risikolos

Und dennoch. Ein Urteil oder eine Gesetzesnovelle, die das Apothekensystem in seiner derzeitigen Form völlig ausgehebelt hätte, fehlt bisher. „Ein derartiger Urknall ist auch nicht zu erwarten“, sagt Rainer Prinz, Leiter der Rechtsabteilung der Österreichischen Apothekerkammer. „Einen gewissen Schutz wird es beim Verkauf von Arzneimitteln immer geben müssen. Arzneimittel sind sicher nicht so harmlos, dass die Abgabe in den Regalen eines Drogeriemarktes ohne fachliche Beratung eines Apothekers wünschenswert ist. Auch die Einstufung als rezeptfreies Arzneimittel bedeutet nicht, dass dieses Medikament in seiner Anwendung keine Risiken oder Nebenwirkungen hätte“, erläutert Prinz mit Blick auf die Bestrebungen der Drogeriekette DM, in ihren Filialen sämtliche rezeptfreien Arzneimittel anbieten zu dürfen.

Dazu hat DM 2016 einen Individualantrag beim Verfassungsgerichtshof eingebracht. Der Drogeriemarkt hofft auf eine Möglichkeit zur besseren Versorgung, könnten doch viele Medikamente substanziell günstiger angeboten werden als in Apotheken. „Eine vierköpfige Familie könnte sich dadurch rund 100 Euro pro Jahr ersparen“, rechnet DM-Geschäftsführer Harald Bauer vor. Um dieselbe Beratungsqualität wie beim Onlineverkauf von Arzneien durch Apotheken zu gewährleisten, wo der Kunde auf Wunsch telefonisch oder per Mail beraten wird, möchte auch DM seinen Kunden eine eigene Hotline zu einem Pharmazeuten zur Verfügung stellen. „Rosinenpickerei“ nennen das die Standesvertreter der Apotheker. Sie befürchten, DM würde nur umsatzstarke Arzneimittel in das Sortiment aufnehmen. Schon derzeit dürfen rund 270 in der Abgrenzungsverordnung aufgezählte Arzneien auch außerhalb von Apotheken verkauft werden.

Die Verfassungsrichter haben diesen Antrag zwar bereits vor einigen Monaten zurückgewiesen, allerdings lediglich wegen formaler Mängel. Laut Höchstgericht hätte DM zusätzlich zur Aufhebung des Apothekenvorbehaltes auch die Aufhebung weiterer mit diesem korrespondierender Bestimmungen begehren müssen. An der inhaltlichen Ausgangslage ändert dies nichts. Die Drogeriekette hat ihren Antrag bereits nachgeschärft und einen neuerlichen Anlauf beim VfGH unternommen. „Wir rechnen mit einer Entscheidung noch in diesem Jahr, möglicherweise sogar schon im Sommer“, erklärt Bauer.

Bedarfsprüfung in Defensive

Davon abgesehen geriet mit dem Infragestellen des sogenannten Bedarfsprüfungssystems ein weiterer Grundpfeiler des heimischen Apothekenwesens gehörig ins Wanken. Auch dieses System war lange Zeit in Stein gemeißelt. Grundgedanke der Bedarfsprüfung ist es, neue Apotheken nur dort anzusiedeln, wo ein Bedarf danach besteht. Damit soll einerseits eine flächendeckende Arzneimittelversorgung der Bevölkerung gewährleistet und zum anderen auch das wirtschaftliche Überleben bestehender Apotheken sichergestellt werden. Zwar ist die Bedarfsprüfung auch nach zwei EuGH-Entscheidungen im Zusammenhang mit einer oberösterreichische Apotheke (Sokoll-Seebacher; C 367/12 und C 634/15) nach wie vor aufrecht. Allerdings muss der Behörde sowohl in ländlichen als auch in städtischen Bereichen eine gewisse Flexibilität eingeräumt werden, die es erlaubt, die im Apothekengesetz normierte Grenze von 5500 zusätzlich zu versorgenden Personen auch zu unterschreiten. Nicht zuletzt deshalb musste das Apothekengesetz repariert werden.

Bei einer allfälligen Unterschreitung wird in Zukunft auf die besonderen örtlichen Verhältnisse abgestellt. Ob die Voraussetzungen vorliegen, ist von der zuständigen Behörde im Einzelfall zu prüfen. In den Erläuterungen zur besagten Novelle finden sich zahlreiche Beispiele: etwa stetig wachsende Siedlungsgebiete oder die Nähe zu stark frequentierten Verkehrsknotenpunkten wie Bahnhöfen oder Flughäfen. Vor allem aber dort, wo einer unversorgten Wohnbevölkerung in angemessener Nähe keine Apotheke zur Verfügung steht.

So weit, so gut. Doch diese Aufzählung ist nicht abschließend. Es ist wohl zu erwarten, dass die Rechtsprechung sie deutlich erweitern wird. So wird in Zukunft wohl bei zahlreichen Ansuchen um eine neue Apotheke versucht werden, auf besondere örtliche Verhältnisse abzustellen und dadurch letztendlich eine Unterschreitung zu rechtfertigen. Zwar hat immer eine Abwägung zwischen dem Ausmaß des Vorteils einer neuen Apotheke und den aus der Neuerrichtung resultierenden Nachteilen stattzufinden. „Wir rechnen aber insgesamt schon mit einer steigenden Zahl an Apothekenansuchen und letztendlich mit mehr Apotheken“, so Prinz. Auch wenn die Bedarfsprüfung nach wie vor aufrecht ist und auch der freie Verkauf rezeptfreier Arzneimittel noch auf sich warten lässt: Eine schleichende Liberalisierung des Apothekenwesens – in homöopathischen Dosen – ist nicht zu übersehen.


Dr. Matthias Petritsch, MA ist als Jurist und freier Journalist in Wien tätig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2017)

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