Europäischer Haftbefehl

Fall Puigdemont als Symptom einer Zersetzung

Der Fall Puigdemont lenkt den Blick der Öffentlichkeit auf ein Problem, das über die Grenzen der beteiligten Staaten reicht.
Der Fall Puigdemont lenkt den Blick der Öffentlichkeit auf ein Problem, das über die Grenzen der beteiligten Staaten reicht. (c) APA/AFP/JOHN MACDOUGALL
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Der Umgang der deutschen Justiz mit dem von Spanien erlassenen Europäischen Haftbefehl gegen den Katalanen Carles Puigdemont offenbart wachsendes Misstrauen gegen die Rechts- und Wertegemeinschaft der EU.

Wien. Die öffentliche Diskussion um die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts im Fall Puigdemont, die Äußerungen der deutschen Justizministerin und die darob ergangene spanische Empörung geben Anlass für einige Reflexionen zum Europäischen Haftbefehl. Dabei erweist sich der Europäische Haftbefehl als Gradmesser für die Auflösungstendenzen der europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft aus österreichischer Sicht.

Gegenseitiges Vertrauen

Der Europäische Haftbefehl sollte das System der Auslieferung zwischen EU-Staaten abschaffen und durch eine vereinfachte Übergabe ersetzen. Das Konzept fußt auf zwei Annahmen: der eines Raumes von Freiheit, Sicherheit und Recht und der des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten. Dieses betrifft vor allem die (Be-)Achtung der im EU-Recht anerkannten Grundrechte und geht so weit, dass es sogar die Übergabe eigener Staatsbürger zulässt.

Die vereinfachte Übergabe ist aber kein Automatismus: Die Grundpfeiler des Auslieferungsrechts wirken auch beim Europäischen Haftbefehl fort, insbesondere das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit in den beteiligten Mitgliedstaaten. Dieses Erfordernis wird jedoch durch die Möglichkeit der Zuordnung unter eine bestimmte Deliktsgruppe (Katalogdelikt) erheblich aufgeweicht – in diesem Fall hat die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit grundsätzlich zu entfallen.

Der Europäische Haftbefehl sieht auch die gerichtliche Prüfung von Übergabevoraussetzungen und -hindernissen vor. Das nationale Recht Deutschlands kennt darüber hinaus ein politisches Vetorecht. Der österreichische Gesetzgeber hat das Übergabeverfahren dagegen rein justiziell ausgestaltet. Gerichte entscheiden hier somit endgültig, der Kelch einer Positionierung geht an den politischen Entscheidungsträgern vorbei. Das funktioniert im Regelfall ebenso unproblematisch wie unspektakulär, also gut. Das zeigt der österreichische Sicherheitsbericht 2016: Übergabeverfahren erweisen sind insgesamt wesentlich einfacher und schneller als vergleichbare Auslieferungen an Drittstaaten. Österreich stellte im Berichtszeitraum 602 Europäische Haftbefehle neu aus, erhielt 245 Personen übergeben und übergab 173 an Mitgliedstaaten. Die Bewilligungsquote lag bei (sehr hohen) 81,5 %.

Übergabesachen beschäftigen die Öffentlichkeit in ruhigen Zeiten somit wenig. Der deutsche Straf- und Völkerrechtslehrer Ludwig von Bar warnte aber bereits in den 1890ern: „es könnten noch andere Zeiten kommen, wo eine Auslieferung eine höchst schwierige und peinliche Frage wird, und auf der einen Seite die öffentliche Meinung über einen solchen Fall sehr erregt ist, auf der anderen eine auswärtige Regierung drängt.“ Derartige Zeiten sind angebrochen. Der Fall Puigdemont ist dabei nur eine besonders sichtbare Diskussion, deren Auswirkungen sich nicht auf die unmittelbar beteiligten Mitgliedstaaten beschränkt.

Erstaunliche Aufforderung

Die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts (abrufbar unter www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/OLG/olg_node.html) war bereits Gegenstand zahlreicher Abhandlungen und soll an dieser Stelle nicht nochmals im Detail aufgearbeitet werden. Die Verneinung der Rebellion bzw. des Hochverrats ist nicht zu beanstanden: Das Gericht hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Tat in Deutschland nicht strafbar wäre (das Ergebnis entspricht wohl auch der österreichischen Rechtslage). Die Aufforderung des Gerichts jedoch, Spanien solle ergänzende Informationen zum Untreuevorwurf liefern, scheint mit Blick auf das sehr eingeschränkte Prüfungsrecht bei der hier erfolgten Einordnung als Katalogdelikt einigermaßen erstaunlich.

Für sich genommen ließe sich das mit überzogener Sorgfalt des Gerichts ob „einer gewissen zeitgeschichtlichen Bedeutung der Person des Verfolgten“ erklären. In Verbindung mit den gänzlich unangebrachten und später halbherzig dementierten Äußerungen der deutschen Justizministerin (Spanien müsse nun darlegen, warum sich Puigdemont einer Untreue schuldig gemacht haben soll, dies werde nicht einfach sein, anderenfalls wäre er ein freier Mann in einem freien Land) lässt sich der Verdacht einer gerichtlichen und/oder politischen Strategie nicht gänzlich von der Hand weisen: nämlich Spanien dazu zu bewegen, den Europäischen Haftbefehl (wie zuvor gegenüber Belgien) zurückzuziehen, um sich der Sache so zu entledigen. In Spanien hat man das offenbar so verstanden, weshalb dort – zumindest in der politischen Rhetorik – der gemeinsame Raum ohne Binnengrenzen bereits in Frage gestellt wird.

Diese Entwicklung betrifft nicht bloß Deutschland und Spanien, sondern rüttelt am Grund(selbst)verständnis der EU und bleibt dabei nicht allein. Anlassfälle und Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Haftbefehl zeigen ein rechtsstaatliches Gefälle zwischen den Mitgliedstaaten und ein Bild fortschreitender Erosion einer äußerst fragilen Rechts- und Wertegemeinschaft.

Österreich: Viele Übergaben

So ist das gegenseitige Vertrauen im Hinblick auf Haftbedingungen schon länger sistiert: Übergaben an Ungarn, Rumänien, Italien, Bulgarien, Slowenien, Polen, Litauen, Belgien und Griechenland (allesamt Mitgliedstaaten, mit welchen Österreich in regem Übergabeverkehr steht) sind nur zulässig, wenn die Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Haftbedingungen ausgeschlossen werden kann. Der irische High Court erachtet darüber hinaus die Gleichschaltung der polnischen Justiz als eine derartige Beschädigung der Rechtsstaatlichkeit, dass es die Zulässigkeit von Übergaben an Polen grundsätzlich in Zweifel zieht. Die Frage liegt nun beim EuGH, es bleibt abzuwarten, wie das Gericht damit umgeht.

Das Instrument des Europäischen Haftbefehls sollte das Zusammenwachsen der EU-Staaten bekräftigen, doch erweist sich der Titel einer Publikation aus 2003 heute mehr denn je als aktuelle Fragestellung: „Europäischer Haftbefehl: Eine Lösung vor ihrer Zeit?“

Mag. Philip Marsch ist Rechtsanwalt in Wien, Rechtsanwaltsbüro Soyer Kier Stuefer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2018)

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