Yves Daccord: "Sicherheit ist für mich der größte Luxus"

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Yves Daccord, Generaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, warnt vor dem Gewaltpotenzial in den Eurokrisenländern, verteidigt den Dialog mit Extremisten, unterstreicht die Bedeutung von Unparteilichkeit im Krieg. Und beschreibt, wie er zwischen zwei Welten pendelt und frustrierende Karrieremomente überwindet.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sieht sich als „neutrale Organisation“. Kann man im Krieg neutral sein?

Yves Daccord: Es ist schwierig, Menschen im Krieg davon zu überzeugen, dass man „neutral“ ist. Für sie gibt es keine Neutralität. Deshalb ist ein anderes Prinzip des Internationalen Komitees vom Roten Kreuzes viel wichtiger: die Unparteilichkeit. Wir sprechen mit allen in den Konflikt involvierten Parteien – oder zumindest versuchen wir das. Und wir urteilen dabei so wenig wie möglich. Unser einziges Ziel ist es, Menschen zu helfen.


Wie ist es möglich, als Zeuge von Mord, Gewalt und Terror unparteiisch zu bleiben?

Man muss unparteiisch bleiben, da geht es ums Überleben. Denn sobald du als humanitärer Helfer im Krieg Partei ergreifst, hast du keine Chance mehr. Das heißt nicht, dass wir keine Meinung haben. Das geht ja gar nicht. Wir haben meist sehr stark ausgeprägte Meinungen, vor allem, wenn wir in Konfliktgebieten tätig sind. Trotzdem verlange ich von meinen Mitarbeitern absolute Unparteilichkeit. Sie müssen mit allen reden, allen zuhören. Ich habe im Laufe meiner Karriere mit sehr unangenehmen Menschen zu tun gehabt, mit Leuten, die man am liebsten niemals treffen würde. Aber wir haben keine Wahl.


Das Rote Kreuz hat von Israel gesuchten Hamas-Aktivisten Unterschlupf in Ostjerusalem gewährt. Israel warf der Organisation daraufhin Parteilichkeit vor: Die Hamas-Leute hätten die Zeit genutzt, um Propaganda gegen Israel zu machen.

Wir sprechen mit der Hamas, wir sprechen mit den Israelis – auch wenn das für die andere Seite schmerzvoll ist. Wir müssen das tun, um unser Ziel zu erreichen: um Zugang zu all jenen Menschen zu bekommen, die unsere Hilfe brauchen. Nur der Dialog, der direkte Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern öffnet uns die Türen zu den Notleidenden. Vielleicht ist dieser Zugang nicht immer ideal. Aber er ist der beste, den wir kennen.


Ihre Organisation arbeitet seit Jahren mit den Taliban zusammen. Wie reagieren Sie, wenn die Islamisten sich etwa weigern, Frauen und Mädchen ärztlich zu behandeln?

Wir nehmen ein Nein nicht einfach so hin. Und ich sage Ihnen, die Taliban sind nicht dumm: Die wissen genau, dass sie uns brauchen – wenn sie zum Beispiel ins Gefängnis kommen. Dann helfen wir ihnen, den Kontakt zu ihren Angehörigen aufrechtzuerhalten: Auch die Taliban haben Familien. Ein Kompromiss ist fast immer möglich – in diesem Fall in der Form von getrennten Spitälern. Der Weg zum Kompromiss kann aber mühsam sein.


Was sind die größten Probleme für Ihre Mitarbeiter in Syrien?

Ich habe selten zuvor eine so komplexe Situation erlebt. Das Land ist fragmentiert, die Frontlinien verändern sich ständig: In fast jeder Stadt gibt es mehrere Fronten. Das macht unsere Arbeit schwierig, da wir nicht überall hinkommen, wo wir gebraucht werden. Und immer mehr Syrer bedürfen humanitärer Hilfe. Höchst problematisch ist zudem die Behandlung der Kriegsgefangenen – durch alle Parteien.


Sie sagten unlängst, Südeuropa stelle eine der größten Herausforderungen für Ihre Organisation dar. Wie meinten Sie das?

Ich habe im Jänner zu meinen Leuten gesagt: Revidiert eure Programme, konzentriert euch auf die Länder, die unter der Wirtschaftskrise leiden. Allein in Spanien arbeiten wir so intensiv wie seit Jahrzehnten nicht mehr – in Bereichen wie Nahrungsmittelverteilung, Verschaffung von Unterkunft oder psychologische Betreuung. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Europäer von humanitärer Hilfe abhängig. Das ist eine neue Entwicklung. Wir müssen auf das, was kommen könnte, logistisch vorbereitet sein.


Was könnte kommen?

Ich sehe ein enormes Gewaltpotenzial. Soziale Spannungen wachsen immer, wenn das Brot zu teuer wird. Zudem haben immer mehr Jugendliche mit Universitätsabschluss keine Chance auf einen Job.  Sie müssen sich anhören, dass es Jahre dauern kann, bis es besser wird. Dass der Hass auf die Politik wächst, ist kein Wunder. Da stauen sich Wut, Frust und Hoffnungslosigkeit an: eine explosive Mischung.


Sie pendeln ständig zwischen zwei Welten – der heilen europäischen Welt, in der Ihre Familie lebt, und der zerrütteten Welt, in der Sie arbeiten. Ist das nicht schwierig?

Die Rückkehr in den Familienalltag geht immer sehr schnell. Ich habe drei Töchter, meine Frau arbeitet Vollzeit. Ich habe also nicht viel Zeit, nachzudenken: Sobald ich nach Hause komme, werde ich sofort eingeteilt (lacht). Und das ist gut so. Ich schätze es so sehr, in einer Welt leben zu dürfen, in der ich ohne Bodyguards spazieren gehen kann. In der meine Frau arbeiten kann, meine Töchter in die Schule gehen können, ohne dass sie dadurch ihr Leben in Gefahr bringen. Diese selbstverständliche Sicherheit – das ist für mich der größte Luxus eines Lebens in Europa. Viel mehr noch als Reichtum.


Sie waren Journalist. Fehlt es Ihnen, Beobachter und Chronist von Konflikten zu sein?

Nein, überhaupt nicht. Zumal sich der Job sehr geändert hat. Damals, als ich TV-Dokumentarist war, arbeitete ich in einer anderen Medienwelt. Der wirtschaftliche Druck war noch nicht so groß, es war einfacher, unabhängig zu sein. Dieser Beruf hat mir aber sehr viel gegeben: Ich habe gelernt, zuzuhören, ich habe gelernt, mit Menschen zu kommunizieren. Ich habe gelernt, dass meine Story nur dann gut wird, wenn ich es schaffe, einen guten Draht zu meinen Interviewpartnern aufzubauen. Und genau diese Fähigkeiten helfen mir jetzt in meinem Job.


Gab es Momente, in denen Sie Ihren Job aufgeben wollten?

Oh ja, da gab es etliche solche Momente – und zwar immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass kein Dialog mehr möglich ist. Im Jugoslawien-Konflikt war es so, zu einem bestimmten Zeitpunkt haben alle Seiten blockiert. Oder in Tschetschenien, als es zum Machtwechsel bei den Rebellen kam, da ging auf einmal gar nichts mehr. Und in Pakistan: Da gibt es – ich will nicht ins Detail gehen – einige „Abteilungen“, die nur bremsen.


Wie gehen Sie damit um?


Ich habe gelernt, Geduld zu haben. Erst versuche ich, mich zu beruhigen. Dann warte ich ab. Manchmal ist es besser, eine Gesprächspause einzulegen. In anderen Situationen lohnt es sich, sofort weiter Druck auszuüben. Vor allem aber ist es wichtig, den Dialog nicht absterben zu lassen. Solange man redet, gibt es eine Chance. Das zweite, was ich gelernt habe, ist mich zu fragen: Was wollen sie mir mitteilen? Wieso blockieren sie? Meist sind es politische Zwänge. Hat man den Kontext verstanden, ist man einen großen Schritt weitergekommen.

Sie arbeiten intensiv mit Menschen zusammen. Haben Frauen und Männer einen unterschiedlichen Zugang, wenn sie in Krisengebieten im Einsatz sind?

Ich bestehe auf gemischte Teams, im idealen Fall mit gleich vielen Männern und Frauen. Dann funktioniert unsere Arbeit am besten. Zum einen aus pragmatischen Gründen: In islamischen Ländern haben meist nur Helferinnen Zugang zu Frauen und somit zum Kern der Familie. Es gibt auch andere Vorteile: Oft haben Frauen und Männer einen anderen Zugang, wenn es etwa um das Verständnis der psychologischen Bedürfnisse von Konfliktopfern geht. Gemischte Teams helfen, besser zu begreifen, was Menschen brauchen.

Könnten Sie Beispiele dafür nennen?

Im Jugoslawien-Krieg kamen Frauen zu uns, die ihre Söhne und Männer vermissten. Wir machten unsere Arbeit, aber sie waren wütend, beschimpften uns. Lange verstanden wir nicht, was sie wirklich wollten. Bis einige Helferinnen begriffen: Diese Frauen erwarteten, dass wir mit ihnen reden, ihnen zuhören, sie auf ihren schwierigen Weg psychologisch begleiteten.
Ein anderes Beispiel: Im Kongo haben wir eine Frau betreut, die vergewaltigt worden war. Unser Team bot ihr psychologische Unterstützung an, wollte ihr Zeit geben, um die schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten. Einige Mitarbeiterinnen sagten aber: „Wir müssen für sie so schnell wie möglich eine Arbeit finden, damit sie sich wieder in die Dorfgemeinschaft integrieren kann. Diese Unterstützung verlangt sie von uns. Denn als vergewaltigte Frau kann sie das alleine nicht tun.“ Diese Einstellung hat zu heftigen Diskussionen innerhalb des Teams geführt. Aber wir sind darauf eingegangen. Und es war die richtige Entscheidung.

Herr Daccord,
darf man Sie
auch fragen . . .


1 . . . ob Ihre Familie nicht protestiert, wenn Sie so oft in gefährlichen Ländern unterwegs sind?
In meiner aktuellen Position als Generaldirektor bin ich zwar viel unterwegs, aber mein Job ist nicht mehr so gefährlich wie früher, als ich noch als Helfer in Krisengebieten tätig war. Das ist gut so. Und: Ich brauche die Nähe, den ständigen Kontakt zu meiner Frau und meinen drei Töchtern. Es hilft auch, dass meine Frau früher beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz gearbeitet hat. Sie kennt diese Welt, sie versteht, was ich tue. Ich kann mit ihr über meine Arbeit reden.

2 . . . ob sich Frauen und Männer im Krieg anders verhalten?
Ich kann nur beschreiben, was ich persönlich erlebt habe: Im Krieg, in den aussichtslosesten, schwierigsten Situationen, halten Frauen durch, finden Wege, um zu überleben. Männer brechen viel schneller zusammen. Das habe ich in Tschetschenien, in Afghanistan, in Jemen, in Somalia immer und immer wieder beobachtet. Eine Erklärung dafür habe ich nicht.

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