Der Architektur-Aufreger im Wartezimmmer

Willkommen auf der B-Seite des Lebens.
Willkommen auf der B-Seite des Lebens. (c) imago/allOver-MEV (imago stock&people)
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Nicht nur das Gesundheitssystem lässt uns allmählich im Stich: Die Gestaltung seiner Wartezimmer auch.

Soviel Ablehnung überall. Die Lottozahlen wollten einen nicht. Die U-Bahn ist extra schnell davon gefahren. Und der Paketzusteller bringt die Pakete absichtlich zuerst zum Nachbarn. Oder in ganz weit entfernte Nagelstudios. Und dann noch das: Man braucht einen Arzt. Oder noch schlimmer: die Kinder brauchen einen Arzt. Nämlich so einen, der im Pauschalarrangement zwischen Gesellschaft und Gesundheitssystem eigentlich kostenlos dabei gewesen wäre laut Prospekt. Doch die Kinderarztpraxen und die meisten anderen auch, senden deutliche Signale: Dass Theorie und Arztpraxis weit von einander entfernt sind. Besetzt, das beginnt schon am Telefon. Und besetzt, so geht es weiter. Im Wartezimmer. Wenn man überhaupt so weit kommt. Denn meist weisen hektisch gesprochene Tonband-Texte noch mal extra hektisch darauf hin, dass alles viel zu voll und übervoll und überhaupt und Wahnsinn. Soviel vom Gefühl „Ich darf nicht hinein, aber alle anderen schon“ hatte man sich zuletzt in den 1980er Jahren an den Eingängen der Discos abgeholt. Damals: selber schuld. Sportschuhe angezogen. Heute: Schuld ist das System.

Die Arztpraxen müssen jetzt ihren als freundliche Wesen geborenen Angestellten erst einmal auf einen neuen raueren Ton einschwören. Nicht immer mit Erfolg: Manchen gelingt es immer noch, in die Wartezimmer der Ärzte zu schlüpfen. Ein Gefühl des Auserwähltseins stellt sich ein. Bei einem Arzt, den man sich selbst nicht ausgesucht hat. Aber endlich darf man warten. Und diese Zeit könnte die schönste des Jahres werden. In der sich alles umgekehrt, die Logik des Alltags vor allem. Das Wartezimmer als unterschätzte B-Seite des Lebens. Sekunden, Minuten, Zeit. Endlich hat man davon zuhauf. Endlich darf man wieder so etwas wie Empathie spüren. Wenn jeder neuer Patient am Empfangstresen seine Krankheitsgeschichte gut hörbar für alle exponieren muss. Selten hat die Innenarchitektur die Gelegenheit, unangenehme Situationen mit gänzlich fremden Menschen so verheerend zu verknüpfen. Und ja: Menschen sind soziale Wesen. Aber im Wartezimmer ist das Kollektiv ein erzwungenes.  Aber es könnte auch Kalkül sein, dass das Kollektiv mitanhören muss, wo's drückt und schmerzt und welche Anti-Depressiva gerade ausgegangen sind. Wenns einem schlechter geht, fühlt sich das Kollektiv gleich besser. Und hat man noch nicht die ganze Leidensgeschichte gehört, hat man danach noch ausgiebig Gelegenheit sich die Lücken zusammenzureimen. Denn die Sessel in den Wartezimmmern sind meist so angeordnet, dass man jeden Patienten gut von oben bis unten überblicken, anstarren, bemustern, beäugen kann.

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