Cradle-to-Cradle: Das Wiegenlied der Baustoffe

Wiegenlied Baustoffe
Wiegenlied Baustoffe(c) Www.BilderBox.com (Www.BilderBox.com)
  • Drucken

Auch in der Architektur kann das zukunftsweisende Cradle-to-Cradle-Prinzip (C2C) zur Anwendung kommen. Gefragt sind Gebäude, die wie lebende Organismen gedacht werden und funktionieren.

Wenn das Ende zum Neuanfang wird und menschliche Erzeugnisse am Ende ihres Lebenszyklus ihre Kreislauffähigkeit unter Beweis stellen müssen, schlägt die Stunde des zukunftsorientierten Cradle-to-Cradle-Prinzips (C2C). Dass dieses progressive Konzept, das auf die nahtlose Weiterverwendung einzelner Komponenten setzt, auch im Bauwesen Anwendung finden soll, wurde Anfang des Jahres am zweiten Bauherrenkongress in Linz erörtert.

Die Fassade als Lebensraum. „Wir sehen Gebäude wie Bäume, sie reinigen die Luft, erzeugen Boden und bieten Platz für mindestens 200 andere Lebewesen“, sagt Michael Braungart, der gemeinsam mit dem Architekten William McDonough das C2C-Konzept entwickelte. „Gebäude sollen nützlich sein, energiepositiv und nicht nur weniger schädlich – ein Baum ist ja auch energiepositiv und nicht kohlenstoffneutral“, fügt er hinzu. Mit Nachhaltigkeit im eigentlichen Sinn habe das Ganze allerdings wenig zu tun, denn „Innovationen sind nie nachhaltig; neue Dinge können nicht nachhaltig sein, sonst wären sie nicht neu“, erklärt Braungart eine der Leitideen. Vielmehr geht es darum, nachwachsende Rohstoffe einzusetzen und diese in Kreisläufen zu halten, sodass kein Abfall entsteht. Dazu bedarf es der genauen Kenntnis aller eingesetzten Materialien und Komponenten.

„Cradle to Cradle ist eine Denkweise, die viel Sprengstoff beinhaltet, weil derzeit die ganze Diskussion noch in Richtung Effizienz geht – die Idee von Michael Braungart geht jedoch in Richtung Effektivität“, weiß Ursula Schneider von pos architekten. Die Auseinandersetzung mit der Stofflichkeit in letzter Konsequenz sei ein neues und noch wenig bearbeitetes Themenfeld. Zurzeit arbeitet Schneider im Rahmen des Forschungs- und Technologieprogramms „Haus der Zukunft“ mit der Druckerei Gugler in Melk an einem Plus-Energie-Gebäude, das C2C-tauglich sein soll. „In unserer Firmenphilosophie geht hauptsächlich darum, dass wir als Menschen und als Unternehmen nicht schädlich, sondern nützlich sind“, erklärt Ronald Dunzendorfer, Projektleiter für das Gugler-Forum. Nun findet dieser Ansatz auch bei der Realisierung des neuen Anbaus eine Anwendung. „Wir fragen uns bei jeder Konstruktion: ,Was verwenden wir? Wie kann man es später wieder trennen? Wo und wie wird es wiederverwendet? Und wie läuft der Rückführungsweg aller Bauteile?‘“, beschreibt Architektin Schneider den Planungsvorgang.

Am Standort in Melk wird in unmittelbarer Nähe ein Natura-2000-Projekt realisiert, in dessen Biotop sich das Gebäude einfügen soll. Dafür setzt das Planungsteam auf Biodiversität und schafft eine Fassade, deren Struktur Lebensraum für andere Lebewesen schafft. „Das Gebäude bietet Möglichkeiten, die über den Naturraum hinausgehen“, so Dunzendorfer. Schon zu Zeiten der Firmengründung sei die Vision der Familie Gugler die ökologisch wertvolle Produktion gewesen. Spannend zu beobachten seien aus seiner Warte besonders durch C2C initiierte Denkprozesse und neue Strukturen, die sich im Unternehmenskontext in Überlegungen zu einheitlicheren Gehaltsschemata, partizipativen Modellen für mehr Mitsprache und Gestaltungsfreiheit der Mitarbeiter äußern.

Nutzung geht vor Produkt. Wie sich das C2C-Konzept auf konventionelle Vertriebsmodelle auswirken kann, zeigt sich am Beispiel des Teppichbodenherstellers Desso. „Das Unternehmen wird im Jahr 2020 nur mehr Materialien herstellen, die sich in biologische und technische Kreisläufe zurückführen lassen“, erklärt Michael Braungart. Um die Kreislauffähigkeit von Gebrauchsgütern zu gewährleisten wird die gesamte Wertschöpfungskette betrachtet. Die Kunden sollen künftig nicht mehr den Teppichboden kaufen, sondern nur für die Nutzung zahlen. Ähnliche Konzepte für den Einsatz von Fenstern oder Licht befinden sich in der Entwicklung. „Auf diese Art und Weise wird das Unternehmen zur Rohmaterialbank und mit jedem Tag mehr wert“, so Braungart weiter.

Im Salzburger Land hat die Firma Thoma Holz den Rezyklierungsprozess von Gebäuden bereits initiiert. „Wir haben unsere Fabriken so gebaut, dass Häuser, die eines Tages nicht mehr gebraucht werden, in ihre Elemente zerlegt werden können“, beschreibt der Unternehmer Erwin Thoma den Vorgang, bei dem alle Elemente auf der Produktionsstraße rückwärtsgefahren und für einen anderen Bau wiederverwertet werden.

Die Gebäude werden mit einem massiven Holzbausystem errichtet, das mit einer weltweit einmaligen C2C-Zertifizierung in Gold ausgezeichnet ist. Der Einsatz von Dübeln ermöglicht den Verzicht auf Leim und andere chemische Stoffe. Die Bauweise bringe nicht nur ökologische Vorteile, etwa ein gutes Raumklima, sondern die natürliche Ummantelung aus Holz habe ebenso technische Vorteile. „Weil die einzelnen Teile trocken zusammengesteckt werden, gibt es im Inneren hauchdünne, stehende Luftschichten, die so gut dämmen, dass die übliche komplizierte Technik überflüssig wird“, so der Naturholzspezialist. Das Portfolio der Firma ist vielfältig, hier finden sich unter anderem eine Green Building Universität in Moskau, das Filmarchiv Austria in Laxenburg oder das erste Naturholzhotel, der Forstalmhof, im Salzburger Land. Dort wird nach zweieinhalb Jahren Laufzeit bereits ein siebenstöckiger Zubau geplant. Thoma freut sich über den Erfolg: „Es geht nicht nur darum, Müll zu vermeiden. Das greift viel zu kurz. Wenn wir ganzheitlich denken und den Begriff der Materialverschwendung weglassen, erzeugen wir auch in vielen anderen Bereichen eine bessere Qualität und Häuser, die gesünder und besser zu bewohnen sind.“

Michael Braungart
Der deutsche Umweltforscher war maßgeblich an der Entwicklung des Cradle-to-Cradle-Gedankens beteiligt, der in verschiedenen Gebieten Anwendung findet.

Haus der Zukunft Plus
Bei dem Forschungs- und Technologieprogramm liegt der Fokus auf Plus-Energie-Bauten und der Initiierung von Demonstrationsprojekten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.