Mit Marie im Garten

Die Clematis bekommt ein Rankgitter aus wiedergefundenem Material.
Die Clematis bekommt ein Rankgitter aus wiedergefundenem Material.Ute Woltron
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Marie Kondo findet Glück in der Askese der Ordnung, doch das muss nicht jedermanns Sache sein, wie sich anhand eines Gartenhauses recht einfach veranschaulichen lässt.

Dank Netflix und der Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“ weiß ich jetzt, dass ich nie erreichen werde, wonach ich seit Jahrzehnten strebe: Ordnung. Nicht in diesem Leben. Ich bin der japanischen Meisterin des Ausmistens und Aufräumens inniglich dankbar für diese Erkenntnis, denn sie hat mir die Unmöglichkeit meines langjährigen sinnlosen Begehrens deutlicher vor Augen geführt, als meine an meiner Unordnung verzweifelnde Mutter das je vermocht hätte. Nur ein Drittel einer einzigen Folge von Maries Aufräumserie hat gereicht, und ich war geheilt.

Ab sofort gebe ich auf. Ich streiche die Segel, überlasse es anderen, Talentierteren, sich an der Perfektion zu ergötzen und verwende die Zeit, die ich bisher mit vergeblichem Ordnungmachen vertan habe, für kreativere Beschäftigungen wie der Vermehrung von Ablegern aller Art, damit auf keinen Fall zu wenig Grünzeug herumsteht.

Würde Marie Kondo beispielsweise jemals in unser beider Verlegenheit kommen, eine meiner zahlreichen Gartenhütten zu betreten – der Plural verweist per se bereits auf einen grundsätzlichen Fehler meinerseits, denn wozu braucht der Mensch nicht nur eine Hütte, sondern gleich mehrere? –, würde Folgendes geschehen. Sie würde sich umblicken, die Hände falten, lächeln, sich tatenlos wieder umdrehen und hinausschreiten in die unverfängliche Sauberkeit des Tageslichts.

Dort würde sie die eine oder andere Spinnwebe aus ihrem schwarz glänzenden Pony zupfen, mich bei beiden Händen nehmen und strahlend anlächeln. „Ich habe die ganze Welt bereist und aufgeräumt“, würde die Meisterin der Ordnung sagen, „doch erst jetzt habe ich in dir mein würdiges Gegenstück gefunden, du Meisterin des Chaos.“


Großmutters Sichel. Nach ihrem Credo soll der ordnungsliebende Mensch nur Dinge aufheben, die „Freude entfachen“. Am Beispiel der von mir Gerümpelhütte genannten Oase voller Werkzeuge, zum Teil an die hundert Jahre alte Schönheiten, verschiedener Pikierstäbe und Blumentopfstapel darf ich festmachen, dass meine Freuden mannigfaltig sind. Auch wenn die Sichel meiner Großmutter so gut wie nie mehr in Verwendung ist, erfreue ich mich daran, wie sie da glänzend und zum Schnitt bereit an der Wand hängt.

Angesichts der meisterlich von anderen – wahrscheinlich entbehrlichen, doch von mir geliebten – Utensilien in Balance gehaltenen Türme von Blumentöpfen in allen Größen kommt Vorfreude auf all die Pflanzen auf, denen sie dereinst Heimat sein werden. Auch Untertöpfe kann der gärtnernde Mensch letztlich nie in ausreichender Menge besitzen. Und wer, je nach Stimmung und Laune, aus vier verschiedenen Rechengrößen wählen kann, wenn die Zeit des Rechens gekommen ist, ist gebenedeit unter den Gärtnern.

Ich wüsste zu gern, wie der Garten der Marie Kondo ausschaute, so sie einen pflegte. Vielleicht wäre es ein fantastisch arrangiertes Kiesgärtlein in japanischem Stil, mit drei, vier ideal in Szene gesetzten Gewächsen. Kein Kiessteinchen zu viel, kein freudespendendes Blatt zu wenig. Doch wer weiß. Ich glaube jedoch, dass die wüste Unordnung meines Gartens sie zumindest beunruhigen könnte. Hier auszumisten würde jedenfalls die Kräfte der zierlichen Powerfrau recht ordentlich in Anspruch nehmen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich liebe die Ordnung, meine Art von Ordnung. Ich sehne mich danach, Letztere zu perfektionieren. Doch bin ich nicht dazu geschaffen, sie dauerhaft zu leben. „Die Unordnung im Zimmer entspricht der Unordnung im Herzen“, schreibt Kondo, und auch in diesem Punkt hat sie meine uneingeschränkte Zustimmung.


Das spontane Neue. Da ich reinen Herzens bin, ist meine Wohnung immer sehr sauber, das werden alle bezeugen, die hier ein und aus gehen. Doch ohne Unordnung im Herzen, ohne wirbelndes Chaos, ohne Sprunghaftigkeit wäre mein Herz rein, aber leer. Das Chaos gebiert die Möglichkeit, dank vieler scheinbar unnötiger Dinge stets etwas zur Hand zu haben, aus dem spontan etwas Neues entstehen kann, sei es eine Vogeltränke aus einer alten Steinschale, sei es ein Rankgerüst für die Clematis aus einem übergebliebenen Bewehrungsgitter, sei es eine eingegrabene Unkrautbarriere aus einem mottenzerfressenen Teppich.

Vielleicht schließen Marie Kondos Philosophie und solche Leute meiner Veranlagung einander gar nicht aus. Ihre Mission lautet, „durch Ordnung Freude in die Welt zu bringen“, unsere, mit Freude das Chaos unermüdlich zu wälzen und daraus Neues entstehen zu lassen. Ich glaube, wir wären gute Freunde, die Marie und ich.

Lexikon

Marie Kondo. Die Bücher der japanischen Ordnungsberaterin sind internationale Bestseller. Ihre Kurse und Seminare zum Thema „Wegwerfen und aufräumen“ sind Renner. Derzeit läuft auf Netflix die Serie „Aufräumen mit Marie Kondo“.

Gartenhütten. Von ihnen kann der Mensch kaum genug haben. Sie dienen nicht nur als Lager, sondern auch als Werkstatt, Witterungsschutz für umtopfende Gärtner im Regen, als Aussichtspunkt zum Gewitterschauen und noch vieles mehr.

Clematis. Das erwähnte Bewehrungsgitter als Rankhilfe ist per se keine Schönheit, doch binnen kurzer Zeit wird es ohnehin überwuchert und trotzt, so gut im Boden verankert, auch dem Sturm.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2019)

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