"Homo urbanus": Artgerechte Architektur

Menschen sind biophile Wesen. Schließlich sind sie in der Savanne geworden, was sie heute sind: eine flexible Spezies, die sogar im Lebensraum Stadt überleben kann.

Die Spezies Mensch macht sich ja ganz gut auf dem Planeten. Andere sterben aus, Menschen dafür werden immer älter. Irgendwas müssen sie richtig machen. Das stimmt, sagt die Verhaltensbiologin Elisabeth Oberzaucher von der Universität Wien. Menschen sind eben ganz geschickte Generalisten. „Sie können alles ein bisschen, aber nichts speziell gut.“ Seine Flexibilität, seine Anpassungsfähigkeit – das macht den Mensch evolutionär so erfolgreich. Da können die Architekten, Designer und Stadtplaner noch so viel verhauen – der Mensch hat sein Habitat überall. Dort, wo es das halbe Jahr dunkel ist. Genauso wie dort, wo die Sonne täglich genau zwölf Stunden lang vom Himmel knallt. Noch dazu sammeln sich die Menschen vor allem in kargen Gebirgen, die sie sich selbst aufgeschüttet haben. In ihnen leben sie dicht gedrängt aneinander vorbei, in versperrbaren Höhlen und in den Schluchten, die sie Straßen nennen.

Oberzaucher beobachtet den „Homo urbanus“ schon lange – in ihrem gleichnamigen Buch zeigt sie, wie er es schafft, in einer selbstkonstruierten Wüste zu überleben. Und beschreibt, wie Design, Architektur und Stadtplanung die Umwelt ein bisschen artgerechter formen könnten, damit die Spezies Mensch, ohnehin getrieben vom Fortschritt, auch mal ein wenig Stress abbaut. Schließlich ist er zum Mensch, wie er heute aufrecht in der überfüllten U-Bahn steht, in der afrikanischen Savanne geworden. So manche Tendenzen, die sich während der Evolution im Schatten der Schirmakazie in seine Verhaltensmuster eingeschlichen haben, zeigt der Homo urbanus auch noch, wenn er unter dem Kastanienbaum im Stadtpark sitzt. Noch dazu scheint er unbewusst Formen zu suchen in den gestalteten Dingen, die ihn an damals erinnern. Egal, ob sie so klein sind wie Zierpölster. Oder so groß wie ein neues Stadtentwicklungsgebiet. „Trotz aller Flexibilität hat sich die Umgebung in unseren physischen, kognitiven und sozialen Eigenschaften niedergeschlagen“, sagt Oberzaucher.

Nähe und Distanz. Schon ein paar verblüffende Fakten und Hypothesen zieht die Verhaltensbiologin da aus den Schubladen. Erklärt auch, warum der Homo urbanus etwa Straßen mag, die mäandern wie Flüsse – was auch dem Wiener Stadtplaner Camillo Sitte schon so gut gefiel. Oder auch, warum das menschliche Hirn ziemlich faul ist und gern das sieht, was es sehen will: Gesichter etwa, selbst wenn es nur die Fronten jener technischen Entwicklungen sind, die den Menschen am stärksten in seinem Lebensraum bedrängen – die Autos. Oder auch, wie Städter ihre Territorien vereinnahmen und verteidigen, im Zweifel auch mit der Handtasche auf dem Nachbarsitz der Straßenbahn. Oder mit dem Holzzaun aus dem Baumarkt vor der Genossenschaftswohnung.
Die Evolution ist eine Schnecke. Deshalb hat sie der Mensch – der‘s eilig hat – längst auf die kulturelle und technologische Ebene ausgelagert. Architekten und Designer haben den Lebensraum mit Heizung, Dächern, die dicht halten, Klimageräten, Kanalanschluss und Parkplatz vor der Tür ausstaffiert. Doch an der kognitiven, ­physiologischen Basisausstattung, dem menschlichen Wesen, da entwerfen die Gestalter noch immer gern schnurstracks vorbei. „Jetzt wäre vielleicht wieder ein guter Zeitpunkt, dass sich die Technologie und das Design hin zum Menschen entwickeln“, meint Oberzaucher. Damit nicht der Mensch selbst ständig seine Überlebensstrategien entwickeln muss – wie etwa, wenn er die Scheuklappen anlegt, um sich durch die dichte Stadt und ihre „soziale Komplexität“ zu lavieren. Gestalter sollten Räume schaffen, die der menschliche Wahrnehmungs- und Kognitionsapparat auch gut verarbeiten kann. Damit man auch mal mit Wohlbefinden statt mit Stress auf das Phänomen Stadt reagieren kann. Dazu müssten die Designer auch das menschliche Bedürfnis nach Nähe und Distanz ein wenig geschickter auspendeln.Wobei: Die Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegsjahre hätten da gestalterisch schon so einiges richtig gemacht, meint Oberzaucher.

Evolutionäre Ästhetik. Die Höfe vieler Gemeindebauten fluten den Lebensraum mit Tageslicht, Frischluft und reichlich Möglichkeiten, sozial zu interagieren und sich ein wenig verantwortlich zu fühlen. Auch der stufenweise Übergang vom öffentlichen Raum in den privaten berücksichtige so manche menschliche Verhaltenstendenz, sagt Oberzaucher. Die Gestaltung der Stadtlandschaft sollte das noch viel mehr, meint sie. Schließlich lieben Menschen Landschaften, die irgendwie auch Savannen sind. Das besagt zumindest die Hypothese, die auch so heißt: vereinzelte Bäume, Grasland, dazwischen ein paar Wasserstellen. Oder: „einen mittleren Grad an Komplexität“ – so sieht die Umgebung aus, die die „Physiologie, Wahrnehmung und Kognition mit geformt haben“. Ausblick schätzt der Homo urbanus hoch. Vor allem, wenn der Rücken dabei noch geschützt ist. Ein evolutionäres Relikt, das etwa die „Prospect Refuge Escape“-Theorie erklärt.

Und die scheint in der Nische des Kaffeehauses genauso wirksam zu werden wie vor dem Münzfernrohr auf dem Kahlenberg. Auch auf Plätzen in der Stadt ist die Randposition die beliebteste, auf Partys kann man ohnehin nirgendwo sich besser den Rücken freihalten als in der Küche, solange sie noch ein eigener Raum in den Wohnungsgrundrissen war. Menschliches Verhalten hat Oberzaucher aber auch dort beobachtet, wo sie essen. Im Auftrag eines Hotels etwa, das nicht genau wusste, was da im Restaurant los war: gute Qualität, zuvorkommende Kellner, trotzdem immer leer. Da kollidierte offensichtlich die Logik des Gastronomen mit jener des Gastes, die noch auf Savannen-Modus kalibriert ist. Die eine sagt: „Ich zeige, dass wir voll sind, dann kommen immer mehr.“ Die andere sagt: „Ich sitze aber nicht gern so exponiert, sondern lieber geschützt hinten in der Nische.“

Relevant ist attraktiv. Rückzugsräume brauchen auch die Städte, die die Planer fleißig nachverdichten. Als Flächenressource, die sich alle teilen, könnten die Dächer dienen, meint Oberzaucher. Vor allem, wenn sie so gestaltet sind, dass sie Städter, evolutionär begründet, fast ins Herz schließen müssen: Wenn sie begrünt, also bepflanzt sind. Denn der Mensch ist ein biophiles Wesen, er liebt, was lebendig ist. „Pflanzen sind in der Evolutions­geschichte eben außerordentlich wichtig.“ Und ihre positiven Effekte evident. Vom Büro bis ins Pflegeheim. Deshalb lässt etwa das Designduo Mischer’Traxler dort auch die Farne fliegen: Die Bewohner sind meist weniger mobil als die Pflanzen, die in einer Installation im Lichthof zu ihnen in die oberen Etagen abheben.

Auch Wasser beruhigt die Gemüter. Am Ufer gibt es wengier soziale Konflikte, auch das wurde schon nachgewiesen. Schließlich war Wasser in der Savanne das, was es noch heute attraktiv macht: rar und relevant. Selbst an künstlichen Ufern, wie Brunnen in Einkaufszentren, konnten Verhaltensbiologen so einige positive Effekte notieren. Auch Straßen, die mäandern wie Bäche, sind beliebter als jene, die gerade wie Kanäle gezogen sind. Seit jeher schwingen und kräuseln sich auf Kunsthandwerk, Hausfassaden und Textilien gern die Linien zum Ornament, als seien sie Blätter oder Blüten.

Im zeitgenössischen Design sitzt man oft genug in Nestern, Eiern oder Anemonen, weil die Gestalter so gern die Natur bemühen. Architekten lassen hölzerne Pilze auf öffentlichen Plätzen wachsen, wie in Sevilla etwa, schicken Menschen in Wale zum Einkaufen, wie in Birmingham, oder setzen riesige Muscheln ins Wasser, wie es Vito Acconi mit der Murinsel in Graz gemacht hat. Designer machen kleinen Autos große Augen, lassen gestalterisch die Muskeln von Motorrädern spielen – vor allem, weil Menschen auf natürliche Formen so positiv reagieren, auf jene, die in der Evolution relevant waren. Die können nun rund sein, aber auch spitz wie die Zähne des Säbelzahntigers. „In der evolutionären Ästhetik freuen wir uns zu sehen, was wir gut verarbeiten können“, sagt Oberzaucher, „wenn aber etwas für unseren Wahrnehmungs­apparat völlig neu ist, dann kommt es zur Stressreaktion.“

Der Homo Urbanus

Der verhaltensauffällige Großstädter. „Einen evolutionsbiologischen Blick in die Zukunft der Städte“ hat Elisabeth Oberzaucher, Zoologin und Anthropologin, in ihrem Buch „Homo Urbanus“, erschienen im Springer Verlag, geworfen. Sie hat sich vor Jahren auf die Erforschung menschlichen Verhaltens spezialisiert und hält seitdem auch die Spezies des Großstädters genau unter Beobachtung. Denn die Stadt ist nun einmal der Lebensraum, in dem sich die meisten Menschen vorzugsweise irgendwie verhalten. Und die Verhaltensbiologie kann so einiges erklären, was bestimmte Muster zwischen Straßenbahn, Genossenschaftswohnung und Hotelbar betrifft. Denn den Menschen, seine Physiologie, seine Wahrnehmung und Kognition haben schließlich ganz andere natürliche Bedingungen geformt.

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