Plastische Philosophie: Andrea Riccòs Bücherregale

Ruhe. Andrea Riccò lebt und arbeitet in einem ­kleinen Ort im Apennin.
Ruhe. Andrea Riccò lebt und arbeitet in einem ­kleinen Ort im Apennin. (c) Beigestellt
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Lesen war seine Befreiung. Heute entwirft Andrea Riccò Bücherregale – und lässt sich dabei gern von eindrücklichen Sätzen leiten.

Eigentlich mag es Andrea Riccò nicht, wenn man seine Bücherregale Designobjekte nennt. Er selbst definiert sie als häusliche Skulpturen, auch wenn sie nicht nur reine Ästhetik sind. „Die Funktion kaschiert allerdings die künstlerische Absicht, ist so etwas wie ein Trojanisches Pferd", erklärt Riccò. Wobei das Buch selbst der rote Faden ist, in engerem und in erweitertem Sinn. Dank dem Buch gibt es heute Riccòs Kollektion „Forme di Sophia". Lesen war seine Befreiung. Daher die Wahl der Namen. „Catena" besteht aus zwei hölzernen Kettengliedern, das größere wird von einer Stahlklinge durchtrennt. Bücher ermöglichen es, die Welt mit anderen Augen zu erfassen: Darauf spielt wiederum „Occhio", Auge, auch „Democrito" genannt, an. Und Bücher sind eine wichtige Lebensquelle, daher die Designskulptur „Linfa".

Moment der Erleuchtung. Andrea Riccò ist kein herkömmlicher Designer, angefangen bei seinem Lebenslauf. „Ich wollte Musiker werden, habe deswegen die Musikhochschule in Reggio Emilia besucht. Doch dann kam eine chronische Sehnenentzündung, machte diesen Traum zunichte." Und da die Menschen in Reggio Emilia, einer Provinzstadt in der gleichnamigen norditalienischen Region, schon immer auf Bodenständigkeit setzen, entschloss er sich – immerhin war er mittlerweile schon 25 Jahre alt –, seinen Lebensunterhalt als Bankangestellter zu verdienen. Fünf Jahre biss er die Zähne zusammen, ging Tag für Tag seiner Angestelltenarbeit nach. Seinen Traum gab er aber nicht auf. Er begann wie verrückt Bücher zu lesen, am Anfang wahllos, bis er eines Tages auf die Philosophie stieß. Und das war der Moment der Erleuchtung. „Zwar wusste ich noch immer nicht, wohin mich diese Lektüren führen würden, aber ich war mir sicher, ich hatte endlich gefunden, was ich suchte."

Auge. „Occhio“, auf Deutsch Auge, spielt darauf an, dass man durch Bücher die Welt mit anderen Augen erfasst.
Auge. „Occhio“, auf Deutsch Auge, spielt darauf an, dass man durch Bücher die Welt mit anderen Augen erfasst. (c) Beigestellt

Und dann war es endlich so weit. Eines Tages räumte er seinen Schreibtisch in der Bank, ließ jede Sicherheit hinter sich, begab sich auf diesen unbekannten Pfad. Genauso wie der amerikanische Schriftsteller und Philosoph Henry David Thoreau, sein Idol, dessen Konterfei er als Tattoo auf einem Unterarm trägt. Thoreaus Buch „Walden. Oder das Leben in den Wäldern" ist für ihn mehr oder weniger eine Bibel. Auch Riccò hat sich mit Lebensgefährtin Eleonora und dem eigenwilligen Kater Platone in einen kleinen Ort ­ im Apennin zurückgezogen: Castello di Querciola, im 13.  Jahrhundert errichtet, einige Häuser aus Stein und Holz. Rundherum dichte Wälder, in denen Riccò gerne spazieren geht. Hier würde er die Ruhe und Harmonie finden, nach der er suche. Wie sein Vorbild Thoreau lebt er aber nicht vollkommen abgeschieden, Reggio Emilia ist keine halbe Stunde mit dem Auto entfernt.

„Das hört sich vielleicht ein wenig verrückt an, ich brauche aber, genauso wie die Luft zum Atmen, diese Ruhe. Erstens, weil ich unter der städtischen Hektik und allzu oft auch Aggressivität leide, zweitens, weil ich hier mein Gleichgewicht wiederfinde", erzählt Riccò. „Mein Vater, ein Maurer, wusste schon mit meiner musikalischen Leidenschaft nichts anzufangen. Meine Mutter hatte ein kleines Unternehmen, das Frauenstrümpfe herstellte. Beide waren mit meinen Träumen überfordert. Dass man anstatt mit einer soliden Arbeit mit einer Leidenschaft seinen Alltag bestreiten kann, war für sie lange Zeit unbegreiflich. Und das erklärt wiederum, warum ich mir bis heute schwertue, mich als Künstler zu definieren. Meistens sage ich, ich würde mich als Künstler versuchen."

Sinngehalt. Die Bezeichnung Designer indes passe nicht zu ihm. Riccò erwähnt die Wiener Werkstätte: Gustav Klimt, Adolf Loos – das verstehe er unter Design, während heute die Industrie das Sagen hat. Das sei nicht sein Ding. Wenn schon, dann folge er der Lehre des italienischen Designers Enzo Mari. Dieser bläute seinen Schülern unentwegt ein, dass Design nur dann einen Sinn ergibt, wenn es auch etwas lehrt.

Geduld. Für den Entwurf „Linfa“ hat er Dutzende Zeichenblöcke vollskizziert.
Geduld. Für den Entwurf „Linfa“ hat er Dutzende Zeichenblöcke vollskizziert. (c) Beigestellt

Er selbst entwirft Formen, die auf das Minimale reduziert sind – man sollte das aber nicht mit Minimalismus verwechseln. „Um Linfa zu entwerfen, habe ich zig Zeichenblöcke vollskizziert. Mir ging und geht es in erster Linie um den Sinngehalt, nicht um die Zeichensetzung. Ich suche den harmonischen Einklang." Das ist auch der Grund, weswegen er so lange an den Skizzen arbeitet. Sich meistens von einem Satz, der ihn besonders beeindruckt hat, leiten lässt. Bei „Catena" hatte er Jean-Jacques Rousseaus Feststellung „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten" als Wegweiser. Wenn er dann endlich die Skizze hat, die seinen Vorstellungen entspricht, macht er sich an das Holzmodell in der Größe 1:1. Auch an diesem feilt und schleift er so lang, bis er das Gefühl hat, jetzt stimme alles. Und erst dann fährt er zu einem Freund nach Modena, der am Computer ein dreidimensionales Modell daraus anfertigt. „Würde ich die Skizzen sofort in eine Computerzeichnung übertragen lassen, hätte ich nicht die richtige Wahrnehmung des Endergebnisses." Denn ihm sind nicht die mathematischen Formeln wichtig, sondern allein die „Emozioni", die Gefühle, die seine Regale auslösen. Deswegen verwendet er nur Holz, Eisen und Glas, Materialien, die zur Urgeschichte der Menschheit gehören. Jede Serie ist eine Limited Edition und trotzdem preislich erschwinglich. „Denn auch das ist der Sinn der Sache." Sein Streben ist darauf fokussiert, ein Regal zu entwerfen, auf dem nur noch ein Buch Platz hat und somit zum Symbol wird.

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