Wild gesammelte Cocktails: Auf ex, Kräuterhexʼ!

Kühl. Die österreichische Wildnis ist für den Aperitif „Fernet Hunter“ ein Motiv für die Vermarktung.
Kühl. Die österreichische Wildnis ist für den Aperitif „Fernet Hunter“ ein Motiv für die Vermarktung. (c) Jürgen Grünwald
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Gummistiefel statt Dinnerjackett: Selbst gesammelte Zutaten sind der letzte Schrei in der Bar-Szene. Mixologen verbinden so Nachhaltigkeit und Regionalität.

Vogelbeere, Schafgarbe, Wilde Karotte und Goldrute – Ruben Neideck ist weder Apotheker noch Schamane, der Berliner zählt schlicht die Zutaten seiner Cocktails auf. Wem in der Velvet-Bar der Sinn nach „Goldrute, gepflückt für uns von Marlene auf dem Reitgut Stolpe, Brandenburg" steht, muss allerdings schnell sein. Genau eine Woche findet sich ein solcher Cocktail in Neukölln auf der Karte. Wie alle Drinks der Berliner Bar ist der mit irischem Whiskey, Cider und japanischem Gin zubereitete Kräuter-Mix nach der jeweiligen Hauptzutat betitelt. Diese steht so gänzlich im Mittelpunkt, und „wenn’s um die Ecke aus Rixdorf kommt, wird das schon mal ganz cool gefunden".

Statt aus dem Großmarkt stammen die Früchte und Kräuter mitten aus der deutschen Hauptstadt: Brachen in Kreuzberg, das Tempelhofer Feld oder der Engeldamm werden zu Sammelgebieten erklärt. Dabei gibt es nicht einmal ein deutsches Wort für diese archaische Art der Cocktail-Kreation. Ganz im Gegensatz zu Großbritannien, wo man Foraging – am ehesten als „Wildsammeln" zu übersetzen – als Volkssport betreibt. Das geht auch an der Bar nicht spurlos vorbei in Zeiten, in denen Regionalität und kurze Lieferwege zählen. Matt Whileys Londoner Bar Scout etwa unterscheidet auf der Cocktailkarte zwischen Drinks, deren Geschmacksgeber von „unter der Erde" oder „vom Strand" stammen.

Profi. Mark Williams ist Forager und Aktivist für freies Sammeln.
Profi. Mark Williams ist Forager und Aktivist für freies Sammeln. (c) Beigestellt

Was Whiley in London umsetzt, macht das Velvet in Berlin, und der Aufwand ist auch abseits der Sammeltätigkeit selbst beträchtlich. Einmal in der Woche haben Damien Guichard, Filip Kaszubski und Ruben Neideck ihren „Lab-Day", dann ziehen sie sich mit den Funden ins Labor, in ihre Kräuterküche, zurück. Hier wird durch zweistündiges Sous-vide-Kochen von Vogelbeeren in Kornbrand eine mandelartige, leicht säuerliche und adstringierende Cocktailzutat. Oder Schafgarbe wird in Zuckerwasser mazeriert, um die Aromen zu lösen. Diese müssen übrigens keineswegs bodenständig sein. „Bei der Sanddornernte zur optimalen Reife wird man geradewegs mit Aromen von Passionsfrucht und Mango belohnt", schwärmt Waldläufer Neideck.

Sauerampfer statt Zitrus. Mädesüß bringt eine Mandelnote mit, die Blüten des Stechginsters wiederum schmecken nach Kokosnuss, erfuhr Kathi Schwaller aus der Wiener Heuer-Bar bei ihrem letzten Forage-Lehrgang. Der Ausflug auf die schottische Insel Islay zeigte der Bartenderin auch, wie unterschiedlich die Zutaten der Ökosysteme sind. Schwaller selbst arbeitet etwa gern mit Sauerampfer anstatt Zitrusfrüchten für die Säure in Drinks. Den findet man auch auf Islay; „Braunalgen, die wie Trüffel schmecken", gibt es umgekehrt am Donaukanal aber eher selten.

Alpin. Die Bar des Englhof im Zillertal setzt bei ihren Drinks auf „Alpine Mixology“.
Alpin. Die Bar des Englhof im Zillertal setzt bei ihren Drinks auf „Alpine Mixology“. (c) Beigestellt

Der Sammlertrip auf die Hebriden war Teil einer Initiative des hier gebrannten „The Botanist"-Gin. 22 der aromagebenden Stoffe, der sogenannten Botanicals, werden bis heute in Wildsammlung in Islay aufgetrieben. Mark Williams ist dafür verantwortlich, und er erhebt als einer der aktivsten Forager gern seine Stimme gegen schottische Grundeigentümer, die das Sammeln einschränken wollen. Die Kontakte zwischen den Kräuterfexen und der Bar stellte Ewald J. Stromer von „The Botanist" her, der auch von einer Cocktail-Meisterschaft träumt, bei der Bartender im Wald ausgesetzt werden und dann nur ­­
mit den gefundenen Pflanzen neue Drinks ­kreieren.

So weit ist es zwar noch nicht, doch der Fokus auf die regionale Flora ermöglicht zumindest erste konzeptive Würfe. „Alpine Mixology" nennt das etwa Andreas Hotter in Zell am Ziller. Der Englhof-Hotelier mit der an Whiskyraritäten reichen Bar serviert statt einem Gin & Tonic dann lieber einen „Alpine & Enzian". Während der Meisterwurzbrand und die selbst gesammelten Kamillenblüten immer im Drink sind, variiert das Bouquet aus Kräutern, das der Tiroler dazu am Glasrand abflämmt. „Das kann Salbei oder Minze sein, dazu auch Erdbeerblätter." Der Vorteil des eigenen Bauernhofs: „dass wir im Sommer bei den Kräutern – in Küche wie für die Bar – autark sind", so Hotter.

Alpine Infusionen. Im Gegensatz zu den Berliner Foragern aus dem Velvet setzt man im Zillertal auch auf ein längerfristiges Angebot saisonaler Aromen: „Wilden Thymian konservieren wir als Infusion." Diese einfache Technik lässt die Zutaten einfach in Alkohol auslaugen – und zwar direkt in der Flasche. Bourbon wird so zum Steinpilz-Whiskey, der dann neben dem Zitronenmelissen-Gin auf der Englhof-Bar steht. Denn auch in Spirituosen und nicht erst an den Cocktailshakern feiern wild gesammelte Kräuter ein Comeback: Raphael Holzers „Fernet Hunter" etwa spielt darauf schon im originellen Namen an. Der Oberösterreicher kombiniert für seine vor allem in Hongkong beliebte Kräuterspirituose Arnika, Iriswurzel und Lavendel, die rund um Brunnwald gesammelt und geerntet werden.

Erfolg. Der oberösterreichische Kräuterbitter „Fernet Hunter“ ist international gefragt.
Erfolg. Der oberösterreichische Kräuterbitter „Fernet Hunter“ ist international gefragt. (c) beigestellt

Dass die natürliche Quelle neben Unabhängigkeit von Industrieprodukten und der Ressourcenschonung sogar einen Kostenvorteil birgt, liegt auf der Hand. „Waren-Einsatz null Euro, aber durchaus mit einem Mehr an bezahlten Arbeitsstunden fürs Personal", relativiert Velvet-Gründer Neideck diesen Aspekt allerdings ein wenig. Für den Zillertaler Englhof, den Einheimische wie Touristen frequentieren, gibt es aber noch ein weiteres Argument für das Foragen: Was dem einen lang vertraut ist, stellt für den anderen eben einen exotischen Gaumenkitzel dar. Andreas Hotter sieht aus diesem Grund auch die Tage gezählt, „in denen man als Gast nichts ­Einheimisches zu trinken findet". Dagegen ist schließlich nicht nur ein Kraut ge­­wachsen.

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