Zwischen Galerie und Gefängnis: Graffitifestival in Wien

A grafitti-covered door is pictured in downtown Valparaiso city
A grafitti-covered door is pictured in downtown Valparaiso cityREUTERS
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Das Festival Calle Libre läuft noch bis Sonntag. Eine jahrtausendealte Kommunikationsform wird kommerzialisiert, kritisiert ein Forscher.

Selten ist die Grenze zwischen Kunst und Vandalismus so schwammig wie bei Graffiti. Während der Sprayer Puber für seine „Kunstwerke“ derzeit im Gefängnis sitzt, feiert das Graffitifestival Calle Libre seit Mittwoch bis Sonntag Wien als Hauptstadt der Street-Art.

„Calle Libre bedeutet übersetzt ,freie Straße‘“, sagt Jakob Kattner. Der öffentliche Raum solle den Künstlern als Fläche zur Identitätsbildung dienen. Insgesamt sieben Sprayer kommen dieses Jahr aus Frankreich, Italien, Venezuela und Österreich, um vier Flächen in Mariahilf und Neubau künstlerisch bei sogenannten Live Paintings vor Publikum zu gestalten. Die größte Fläche im Andreaspark ist 20 Meter hoch, die kleinste beim Museumsquartier misst einen Quadratmeter. So wird etwa der Tiroler Künstler HNRX im Andeaspark einen Riesenwürstelburger mit Zahnbürste malen. Eines der Werke des mittlerweile international tätigen Künstlers findet man in Wien am Naschmarkt: Dort hat er eine große Lippe auf den Rollladen eines Geschäfts gemalt. Die französische Künstlerin Kashink malt im Museumsquartier eines ihrer bunten Monstergesichter. Dazu gibt es Musik und Getränke, im Mumok zudem Gratisworkshops. Am Samstag zeigt Kattner den Film „Calle Libre“, der Teil seiner Doktorarbeit über Graffiti in Südamerika ist.

Das Calle Libre ist nur eines von vielen Street-Art-Festivals, die es in Wien mittlerweile gibt. So wurde etwa der Donaukanal über die Jahre künstlerisch gestaltet, die Flächen von der Stadt zur Verfügung gestellt. Die legale Version von Graffiti heißt heute Street-Art und steht für junge, urbane Kunst, die die Stadt schöner macht. So beauftragen etwa Hausverwaltungen Künstler, um ganze Fassaden zu gestalten. Street-Art findet sich aber nicht nur immer häufiger auf grauen Wänden, sondern die junge Kunst wird mittlerweile auch in Galerien gezeigt und gehandelt.

Ursprungsform geht verloren

So ist der Wiener Street-Artist Nychos mittlerweile international bekannt, seine Werke gefragt. Er wurde 2010 in London entdeckt. Seine Kunst wird als so wertvoll empfunden, dass das Bundesdenkmalamt seine Werke als schützenswert einstuft und einige seiner Stücke im Veranstaltungszentrum Arena im dritten Bezirk unter Denkmalschutz stellen möchte. Neben Galerien interessieren sich in den letzten Jahren auch größere Museen für die junge Kunstrichtung. Die Kunsthalle im Museumsquartier etwa war eine der ersten größeren Institutionen, die sich der Street-Art annäherte und eine Ausstellung dazu kuratierte.

Der Wiener Graffitiforscher Norbert Siegl steht dieser Kommerzialisierung kritisch gegenüber. „Graffiti ist und war immer eine ganz eigene – wenn nicht die einzige – Form der Kommunikation, die nicht regulierbar war“, sagt der Psychologe, der mittlerweile seit Jahrzehnten die Wiener Sprayerszene wissenschaftlich untersucht. So machte er etwa für seine Dissertation eine Studie zu geschlechtertypischen Kommunikationsstilen bei Toilettengraffiti. In manchen Fällen könnten die bunten Bilder belebend sein, allerdings würde der ursprüngliche Sinn verfälscht. Sozialkritische oder politische Botschaften würde diese neue Kunstform kaum mehr vermitteln – auch die für die Subkultur so typische Provokation sei großteils abhandengekommen.

Dabei sei es das Medium Wand gewesen, auf dem die ersten Zeichen und Schriften geschrieben wurden. Auch heute gebe sie noch wichtige Auskunft über die Bedürfnisse der Menschen – gerade in Wien müsse man aber immer öfter an den Stadträndern danach suchen. Siegl sieht die Graffitiforschung als einen Teilbereich der Meinungs- und Medienforschung, darum gründete er 1996 mit der heutigen Margareten-Bezirksvorsteherin, Susanne Schäfer-Wiery, das Institut für Graffitiforschung. Siegl dokumentiert und untersucht seit 1978 die Botschaften auf Wiens Wänden – und rief Wien zum größten Graffitimuseum der Welt aus. Für jene, die abseits der stilisierten Kunst erfahren möchten, was Wiens sprayende Jugend bewegt, bietet Siegl Führungen an.

AUF EINEN BLICK

Führungen. Sieben internationale Künstler bemalen beim Graffitifestival Calle Libre bis Sonntag Flächen in Mariahilf und Neubau. Dazu gibt es Filmvorführungen und Diskussionen. Programm unter: callelibre.at. Graffitiforscher Norbert Siegl steht derartigen Kunstevents kritisch gegenüber. Graffiti sei eine uralte und nicht reglementierte Kommunikationsform, die viel über die Bedürfnisse der Menschen aussage. Er hat Wien zum größten Graffitimuseum der Welt ausgerufen. Führungen: graffitimuseum.at.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2015)

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