Mut für Zwei: Mit Levi allein unterwegs

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Eine junge Mutter reist mit ihrem zehn Monate alten Sohn per Transsib nach China und verarbeitet dieses Wagnis in einem Buch. Wir bringen einen Auszug.

Jetzt sitzen wir schon seit sieben Stunden im Jeep und rumpeln über mehr oder weniger wegloses Gelände. Ausgemacht waren drei Stunden. Wegen Levi. Und auch ich bin kein guter Beifahrer: Wenn ich nicht selbst das Steuer in der Hand habe, wird mir schlecht.

Die Fahrt zu unserem nächsten Camp im Khan-Chentii-Nationalpark sollte laut Auskunft unseres Fahrers und der Übersetzerin Nara insgesamt sieben Stunden dauern. Da uns das mit Levi zu lang erschien, hatten wir die Idee, die Fahrt in zwei Etappen aufzuteilen. Zweimal gemütliche dreieinhalb Stunden Fahrt. Mit vielen Pausen dazwischen und einer Übernachtung in einem Camp genau zwischen Ikh Nart und Jalman Meadows. „Kein Problem!“, hatte Nara sofort gesagt. Verdächtig schnell.



Mehrmals hatte ich nachgefragt, nur um sicherzugehen. Denn mehr als dreieinhalb Stunden Autofahrt schienen mir mit Levi relativ schnell relativ ungemütlich werden zu können. Immer wiederholte Nara: „We split the drive in two halfs and sleep in a camp after three to three and a half hours.“

So weit die Theorie. Praktisch sitzen wir jetzt seit siebeneinhalb Stunden eingepfercht im Auto. Die sandige Steppe wurde langsam wieder grasiger. Die einzige Abwechslung boten die drei heruntergekommen wirkenden Plattenbausiedlungen, die immer dann, wenn wir Eisenbahnschienen kreuzten, wie aus dem Nichts auftauchten. Bei allen drei Siedlungen war gut die Hälfte der Bauten bewohnt. Die anderen Türme wirkten so, als hätten die Bauarbeiter auf einmal ein lukrativeres Angebot für eine andere Baustelle erhalten. Oder als hätte der Stadtplaner gemerkt, dass er sich verrechnet hat und doch nicht so viele Menschen wie gedacht hier auf dem platten Land in einem ästhetisch fragwürdigen Objekt leben wollen.  Allen Siedlungen war ein flacher vorgelagerter Bau gemeinsam, auf dem in großen lateinischen Lettern stand: Pub Karaoke Billard. Zum wiederholten Mal frage ich, ob wir nicht langsam nach einem Camp Ausschau halten könnten. Die Schilder, die seit einer Stunde in unregelmäßigen Abständen auftauchen, sind leider nur in mongolischer Sprache beschriftet. Bisher war für mich nicht mal zu erahnen, was da angekündigt wird. Seit zwei Stunden werden die Kopfbewegungen des Fahrers hektischer. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn. Bei jedem Gebäude – Tankstelle, Polizei, Jurte – hält er an, redet mit den Menschen, steigt wieder ein und fährt weiter. Kommentarlos. Und viel zu schnell.

Ein Autounfall,
den ich erfolgreich verdrängt wähnte, kommt mir in den Sinn, und so frage ich erneut durch Levis lauter werdende Unmutsäußerungen nach der Entfernung zum nächsten Camp. Das nächste Camp sei noch sehr weit entfernt, bekomme ich zur Antwort. Auf meine bekannte Erwiderung, dass wir doch besprochen hätten, nach dreieinhalb Stunden Fahrt irgendwo anzukommen, ernte ich mittlerweile nur noch Naras Schweigen. Und langsam lauter werdendes Fluchen des Fahrers. Auch meine Laune verschlechtert sich. Rückbank ist für mich die Hölle, und langsam gehen Markus (der Mann der Autorin war fünf Tage auf Besuch, Anm.) und mir die Spiele aus, die Levi von der ganzen Misere ablenken sollen.

„Ich möchte eine Pause“, sage ich. Nara schaut starr geradeaus. Wir halten. Levi krabbelt über die grasige Steppe, wir trinken Tee. Ich krame meine Mongoleikarte heraus und will wissen, wo wir sind, wo Jalman Meadows ist und wo sich das Camp für unsere geplante Zwischenübernachtung befindet.  Statt einer Antwort oder eines Fingers auf der Karte ernte ich verständnisloses Achselzucken. „Mongolen fahren nicht nach Straßenkarten“, sagt Nara. Hat Sinn, denke ich. Außer den paar Kilometern befestigter Straßen um Ulan-Bator existiert in der Mongolei eh kein Straßennetz.

Ich bitte Nara immer mal wieder, mir ungefähr zu zeigen, wo die Camps sind, und bekomme so im Lauf unserer Fahrt fast jeden Punkt auf der Karte nördlich von Ikh Nart und östlich von Ulan-Bator gezeigt. Irgendetwas läuft hier komplett schief. Aber was? Da die eine Stunde Freiheit unsere Laune gehoben und Levi beruhigt hat, fahren wir optimistisch gestimmt weiter. Nach zwei weiteren Stunden fällt mir ein, dass der Fahrer von Ulan-Bator nach Ikh Nart vor dem Zug angekommen war. Und dass der Zug sechs oder sieben Stunden gebraucht hatte. Und dass wir dann eigentlich nicht allzu weit von Ulan-Bator entfernt sein können. Und dass die Schilder vermutlich auch auf die naheliegende Zivilisation hindeuten.

Ich diskutiere meine Erkenntnisse mit Markus. Levis Gesicht ist leicht gerötet von der Hitze und dem Ärger darüber, festgeschnallt zu sein.Unseren Entschluss teile ich Nara mit: „Wir wollen nach Ulan-Bator.“ „Ohhh, Ulan-Bator ist jetzt sehr weit entfernt.“ „Was meinst du mit jetzt?“ Schweigen „Dann will ich jetzt in ein Camp.“ „Hier gibt es keine Camps.“ „Wo sind wir?“ Achselzucken. „Dann ist es mir egal, ich will nach Ulan-Bator. Mir reicht’s.“ „Wir sind bald in Jalman Meadows!“ rutscht es Nara heraus. „Was?“ „Noch drei Stunden.“

Langsam dämmert mir, dass das mongolische Konzept von Raum und Zeit doch erheblich von meinen westeuropäisch geprägten Vorstellungen abweicht. Und die Vorstellungen von Gästebetreuung auch. Oder hatten die beiden nie vor, uns zu einem Zwischenstoppcamp zu bringen, weil es eine Abweichung vom ursprünglichen Plan beinhaltet?

Ich erinnere mich aufgrund zunehmender Übelkeit und leer gespieltem Hirn nur vage an mein Studium der Interkulturellen Kommunikation. Asiatisch geprägte Kulturen seien polychron. Ihr Zeitverständnis entspräche eher einem Kreis, während das Zeitverständnis der Westeuropäer linear fortschreitend sei. Und im Kreis fahren wir ja auch. Zumindest kommt es mir so vor. Was sich sicher im Kreis dreht, ist die Kommunikation in unserem Jeep:

„Levi schafft keine drei Stunden Fahrt mehr. Ich möchte sofort anhalten.“ Der Fahrer schaut erschrocken, dann wütend. Dann flucht er los. Auf Mongolisch. Und ich fluche auf Deutsch zurück. Ich bestehe darauf, dass der Fahrer mir mit dem Finger den Ort auf der Karte zeigt, an dem wir vor zwanzig Minuten vorbeigebraust sind. Ich komme mir vor wie ein Lehrer in den Sechzigerjahren, der einen Schüler quält. Und das fühlt sich wirklich nicht gut an, aber schließlich geht es um Levis Wohl.

Der Finger des Fahrers landet auf einem Punkt, der maximal 35 Minuten von Ulan-Bator entfernt ist. Und höchstens zehn Minuten von der Einfahrt zum Tereldsch-Nationalpark. Mit Millionen von Camps. Der Tereldsch ist die Haupttouristenattraktion der Mongolei. Deswegen wollten wir da auch nicht hin. Eigentlich. „Warum sind wir denn nicht in den Tereldsch gefahren?“, frage ich Nara, und meine Verzweiflung ist echt.  Aber das Gespräch hat mittlerweile recht einseitige Dimensionen angenommen. In Ermangelung irgendwelcher Erklärungen von mongolischer Seite erkläre ich somit den Tereldsch zum neuen Ziel unserer Odyssee. Die Gesichtszüge des Fahrers entgleiten. Sein Mund steht offen, ohne dass ein Ton entweicht. Er starrt mich an. Wird bleich. Seine Füße trippeln hin und her, ohne dass er sich von der Stelle bewegt. Zurückfahren scheint gegen die mongolische Fahrerehre zu verstoßen. Schweiß steht auf seiner Stirn. Oder existieren irgendwelche anderen Gründe, warum dieser sehr pflichtbewusst wirkende Mann meint, uns heute noch nach Jalman Meadows bringen zu müssen? Mir fällt keiner ein.

Auf der Zeit-Raum-Achse. Auf jeden Fall scheint mir klar ersichtlich, dass der Fahrer und Nara sich nicht uns und unserem Wohl verpflichtet fühlen. Sondern irgendeinem höheren Ziel. Aber welchem? Oder übersetzt Nara irgendwelchen Quatsch? „Jalman Meadows ist ganz nah“, verspricht Nara plötzlich. „Nur noch anderthalb Stunden!“ Sie lacht dazu. „Gerade hast du gesagt, es seien noch dreieinhalb Stunden?“, frage ich zurück und ernte eisiges Schweigen.

Zumindest Nara hat doch in Großbritannien gelebt.  Wenn hier eine interkulturelle Standardkonfliktsituation auf Basis unterschiedlichen Zeitverständnisses vorliegt, müsste Nara doch zumindest ein bisschen vermitteln können. Außerdem trägt der Fahrer eine Uhr. Also der Unterschied zwischen drei und zwölf Stunden müsste ihm doch geläufig sein. Und die Dimensionen seines Landes sind dem altehrwürdigen Fahrer doch auch ein Begriff. Oder?

Ich ahne, dass das Problem nicht auf der Zeit-Raum-Achse zu liegen scheint, und sehe den Tereldsch als einzigen Rettungsanker. Als Levi anfängt zu weinen, Markus auch keine Idee mehr hat und die Option auszusteigen, mit den Türen zu knallen und ein Taxi zu rufen, nicht wirklich existiert, blättern wir im Reiseführer nach einem Hotel im Tereldsch, dessen Adresse auch auf Mongolisch angegeben ist. „Dann müssen wir jetzt eine Stunde zurückfahren. Und die Fahrt morgen wird auch länger!“, gibt Nara zu bedenken. Aber das ist uns egal. Unser Vertrauen in die Angaben unser mongolischen Begleiter ist eh dahin. „Wie lang ist die Fahrt dann morgen?“, frage ich matt. „Drei bis vier Stunden“, antwortet Nara mit regungslosem Gesicht. Ihre Stimme wie immer ruhig und leise. Ich muss lachen. Und entschuldige mich gleich darauf schweigend dafür. Ich will niemanden verletzen. Ich will nur aus diesem Auto raus.

Als der Fahrer begreift, dass er wenden muss, geht eine mongolische Schimpftirade allererster Güte über uns nieder. Wir ertragen sie heldenhaft schweigend und sitzen 45 Minuten später in einem kuscheligen Hotelzimmer mit Blick auf die Berge der mongolischen Schweiz. Das Wasser läuft in die Badewanne ein, Abendessen aufs Zimmer ist bestellt, und Levi hüpft zufrieden auf einem weichen Bett. „Ob der Fahrer wohl morgen wieder auftaucht?“, frage ich und bin mir nicht ganz sicher, ob ich mich dann freuen oder besorgt zeigen sollte. „Und wie lange die Fahrt morgen wohl dauert?“, gibt Markus zurück. „Geiselnahme als mongolische Geschäftstaktik“, pruste ich heraus, und fast hysterisch lachen wir drei uns den Frust der letzten Stunden von der Seele.

Abends im Bett halte ich die Erkenntnisse des Tages fest: Wenn du in der Mongolei ein Auto besteigst, ist ungewiss, wann du wieder rauskommst. Ohne Levi wären wir entspannt oder zumindest entspannter geblieben. Aber mit Levi ist Autofahren mit Fahrer und ohne Zeltausrüstung keine optimale Reiseform.

fuer Zwei Levi allein
fuer Zwei Levi allein(c) Beigestellt

TIPP

Trotzdem war der Tag auf einer anderen Ebene ein wunderbares Erlebnis: Markus und ich haben gemeinsam den Stress von Levi abgehalten, haben uns ohne Diskussionen wechselseitig oder gemeinsam um Levi gekümmert, haben uns gegenseitig gepampert, wenn Levi schlief oder sich selbst beschäftigt hat. Wir waren uns einig, haben uns trotz emotional anstrengender Situationen nicht gestritten, auch nicht, als ich mich auf eine lautstarke Konfrontation mit den Geiselnehmern eingelassen hatte. Was Markus hasst. Und auch nicht, als Markus versucht hat, mit den Entführern stockholmsyndrommäßig gut Wetter zu machen. Was mir entschieden gegen den Strich ging. Wenn es drauf ankommt, funktioniert unser Team. Unser Dreierteam. Zu Hause wird es drauf ankommen.


„Mut für zwei“ von Julia Malchow wird am 14. Mai im Piper Verlag erscheinen (Hardcover, 19,99 Euro). www.piper-verlag.de

Reisestenogramm: 15.000 km München–Peking, 50 kg Gepäck (ein Seesack, ein Daypack), 50 Babygläschen, 150 Windeln, ein Maxicosi, fünf Kilo Reiseapotheke mit 22 verschiedenen Medikamenten, ein Satellitentelefon, zwei Hosen, vier Tops, zwei Paar Schuhe, ein Kleid für Mama, 12 Strampler, ein aufblasbarer Weltkugel-Spielschwimmball für Levi. Zwei Monate on the road mit fünf Stationen. Mit dem Flugzeug von München nach Petersburg und von Peking zurück nach München. Mit der Transsib von Sankt Petersburg nach Irkutsk und mit dem Fischerboot nach Bolschije Koty. Mit der transsibirischen Eisenbahn nach Ulan- Bator, Mongolei. Per Jeep, Transsib und Yak-Karren durch die Mongolei. Per Flugzeug von Ulan-Bator nach Peking. Mit einem rostigen Hyundai, einem Maserati, einer Elektrorikscha, einer Fahrradrikscha, einem Elektrodreirad und per pedes durch die Umgebung Pekings. 36 Einladungen zum Essen. 19 verschiedene Familienmodelle kennengelernt. Temperaturen von minus 15 bis plus 32 Grad. 3,45 Stunden Schnullersuche.

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