Pulque – die fermentierte Revolution

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Mexiko entdeckt seine aztekischen Wurzeln wieder. Das Land gräbt allerdings nicht in der Erde, sondern in der langen Geschichte eines Getränks, das nach einer Kampagne der Bierindustrie fast völlig verschwunden ist.

Es geht wild zu in der dreistöckigen Großraum-Pulquería Los Insurgentes: An den Tresen stehen Hunderte von Männern mit Aztekentattoos und Ohrpflöcken und kippen sich große Humpen einer zähen Flüssigkeit hinter die Binde. Aus der Jukebox dröhnt der Schnulzenkönig Juan Gabriel und die hübschen Mädchen in ihren Uni-T-Shirts bechern tüchtig mit. Die Stimmung erinnert an die Münchner Wiesn, doch statt Bier wird literweise ein weißes bis knallbuntes Etwas aus den Bottichen gezapft.

„Pulque, das ist fermentierte Revolution“, sagt der Schriftsteller Carlos Rentería und nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Ein-Liter-Blechnapf. „Ein Getränk so explosiv wie unberechenbar. Durch Pulque finden wir zu unseren mexikanischen Wurzeln, die der Neokolonialismus fast begraben hätte.“ Die Inbrunst, mit der Carlos und seine Zechkumpanen an ihren vielgestaltigen Humpen und Näpfen schlürfen, lässt darauf schließen, dass die gemeinsame Wurzelsuche heute noch etwas länger dauern wird.

Das weiße Gold

Los Insurgentes (Die Aufständischen) ist nur eine der neu eröffneten Kneipen in Mexico City, die sich der Wiederentdeckung von Pulque verschrieben haben, des uralten indianischen Agavenweins, einst Mexikos Nationalgetränk. „Früher nannte man Pulque das weiße Gold“, fährt Carlos fort, „weil sein Handel mehr Gewinn abwarf als Erdöl. Damals gab es in jeder Straße drei proppenvolle Pulquerías. Selbst Politiker und Präsidenten gönnten sich den Agavenrausch.“

Dass das einstige Getränk Nummer eins heute immer noch ein Schattendasein fristet, liegt an der Geschichte von Pulque: Denn gegen kein alkoholisches Getränk wurde so lange Krieg geführt wie gegen den indianischen Agavenwein, 500 Jahre Ächtung und Diffamierung. Begonnen hat alles ganz exquisit: Unter den Azteken galt der alkoholische Agavensaft als Nektar der Götter, reserviert für Fürsten, Kriegsveteranen und medizinische Notfälle.

Dann kamen die Spanier, die das Ritualgetränk für einen diabolischen, antichristlichen Sud hielten: „Dieses Pulque, das sie da trinken“, klagte der spanische Vizekönig Marquéz de Casa Fuerte, „ist der Ursprung aller nur vorstellbaren Exzesse, Sakrilege, Morde und Frevel.“ Doch die spanischen Kolonialherren mussten mitansehen, wie immer mehr Stehbars aus dem Boden sprossen, in denen das Volk nächtelang zechte.

Nach den Spaniern versuchten die mexikanischen Revolutionsgeneräle dem Konsum Einhalt zu gebieten, und in ihrem Gefolge die Sozialreformer, Temperenzler und Volksbeauftragten. Doch waren es ausgerechnet die mexikanischen Marxisten, die das Gebräu verteidigten: Diego Rivera hielt es „für die erste Pflicht eines jeden Kommunisten, in Pulque-Kneipen zu gehen, aber nur in absolut authentische!“ Fida Kahlo schleppte ihre Zeichenschüler dorthin, um mit ihnen die Internationale zu singen.

Wie hat man sich eine „absolut authentische“, unverfälschte Pulquería vorzustellen? Pifas Leyv, Ex-Boxer, Rausschmeißer und langjähriger Wirt: „Die Pulquerías, in denen ich von Kind an als Gläserwäscher gearbeitet habe, waren alle sehr primitiv. Kleine, schmucklose Räume mit ein paar Hockern und einem Tresen. Die Kundschaft bestand aus Maurern, Lieferanten, Mechanikern und Angestellten, Frauen gab es, doch die konnten Pulque nur zum Mitnehmen kaufen. Die Stimmung war derb und ausgelassen, und Handgreiflichkeiten gab es eigentlich ständig.“

Diese Ausgelassenheit war auch der Grund, wieso die Kneipen einen Ruf genossen, der bis heute anhält. „Pulque hat in den ärmeren Stadtbezirken wie Dynamit gewirkt“, sagt Sozialarbeiter Alfonso Hernández, der seit vielen Jahren das Ghettoviertel Tepito betreut. „Die Typen, die Tag für Tag in der Pulquería saßen, verblödeten langsam und die Gewaltrate in den Familien war unvorstellbar hoch. Die sogenannte mexikanische Fröhlichkeit endete oft in Mord und Totschlag.“

Killerkampagne gegen Pulque

Was dem Business Ende der Fünfzigerjahre das Genick brach, war aber nicht der üble Leumund, sondern ein Trick der Bierindustrie, die den preisgünstigen Konkurrenten aus dem Weg räumen wollte: Die Brauereikonzerne brachten das Gerücht in Umlauf, dass Pulque mit Menschen- oder Hundekot vergoren würde. So bekam der indianische Göttertrank den Beigeschmack des Armseligen, Unterpriviligierten und Kaputten. Von 826 Pulquerías, die es Mitte der Vierzigerjahre in Mexico City gab, blieben bis 2010 nur vier übrig. Tendenz inzwischen wieder steigend.

Besuch auf der Plantage San Isidro, Bundesstaat Tlaxcala, 100 Kilometer von Mexico City. Inmitten eines grünen Meers von mannshohen Agaven steht Raúl del Razo, ein Schnauzbartträger mit Holzfällerhemd und Cowboystiefeln. Vor dreißig Jahren hat sein Vater hier mit dem Agavenanbau begonnen, antizyklisch sozusagen. Heute ist die Del-Razo-Familie Hauptlieferant für Mexico City. „Pulque ist eines der hygienischsten, sensibelsten Getränke der Welt“, sagt Raúl del Razo. „Die Geschichte mit den Kotbeuteln ist Teil einer langen Verleumdungskampagne. Bei jeder Zugabe von Dreck würden Geschmack und Konsistenz von Pulque sofort kippen.“ Raúl del Razo zeigt jeden Produktionsschritt, wie auf seinem Anwesen aus den Agaven das weiße Gold extrahiert wird – 2500 Liter pro Tag. „Um Pulque zu gewinnen“, sagt Raúl del Razo und biegt geschickt die stachligen Blätter beiseite, „suchen sich die tlachiqueros (Arbeiter) zuerst die reifen Pflanzen, die mindestens sechs Jahre alt sein müssen. Dann schneiden sie sich eine sogenannte Tür durch den Wall der Blätter und köpfen mit der Machete das ananasförmige Pflanzenherz auf dem Boden.“

Aus den Blättern fließen nun sechs Monate lang vier bis acht Liter Pflanzensaft pro Tag in die Höhlung: aguamiel, eine Flüssigkeit voller Fruchtzucker, der Ausgangsstoff für Pulque. Zweimal am Tag müssen die tlachiqueros zur Agave kommen, um den Saft zu extrahieren und die Poren wieder freizuschaben.

Was wie ein kurioser Gärtnerjob klingt, ist in Wirklichkeit Knochenarbeit: Mit Fiberglaskeulen saugen die tlachiqueros per Lungenkraft 270 Liter Saft am Tag aus den Pflanzen, füllen ihn in Kanister und transportieren ihn auf Maultieren zu den Lagerhäusern. Wenn die Agaven nach einem halben Jahr leer geerntet sind, bleiben von ihnen nur knochige Blätter und rissige, surreale Höhlen übrig – bis zu zwölf Hektoliter aguamiel haben sie dann produziert.

Schmiergeld für die Beamten

Im kühlen Lagerhaus gären währenddessen in riesigen Fiberglasbottichen 30.000 Liter Pulque vor sich hin. Acht Tage braucht der Agavensaft, um auf einen Alkoholgehalt von 5,6 bis 5,8 Prozent zu kommen. Raúl reicht eine Schale von fertigem, frisch vergorenem Pulque – und in der Tat: Das Getränk schmeckt köstlich kühl, erfrischend und angenehm säuerlich.

Nachmittagskaffee bei den Del Razos mit Espresso, Pulque-Edelbrand und Agaven-Kandis. Der Großvater wettert los: „Die Politiker haben uns Pulque-Hersteller immer wie Kriminelle behandelt! In den Ministerien saßen nur geldgierige Gauner, wir mussten bluten für unseren Beruf! Ständig hat man uns unter fadenscheinigen Vorwänden die Geschäftslizenz entzogen, damit wir dem zuständigen Staatsbeamten wieder Schmiergeld vorbeibrachten. Könnt ihr euch noch erinnern, wie der Bruder des Ex-Präsidenten jede Woche seinen Briefumschlag haben wollte? Wir waren die Watschenmänner, und die Bierlobby steckte mit ihnen unter einer Decke.“

Doch jetzt scheint Licht am Ende des Tunnels – immer mehr junge Mexikaner entdecken das uralte Getränk entdecken. Inzwischen exportieren die Del Razos ihren biologischen Pulque sogar als Dosengetränk nach Nordamerika, Kroatien und Deutschland. Oder nach Mexico City, wo Gäste wie Carlos schon sehnsüchtig die Humpen über den Tresen schieben und auf Nachschub warten.

Denn wie sagt Carlos so poetisch: „Der Dinosaurier unter den Alkoholika trägt dich zu neuen Ufern, und je mehr du davon trinkst, desto mehr genießt du es.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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