Historische Radroute: Von Orleans bis St. Nazaire

Schloss Blois, eines der berühmten Loireschlösser
Schloss Blois, eines der berühmten LoireschlösserV Treney CRT Centre Val de Loire
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Bevor Versailles gebaut war, zogen die französischen Könige an der Loire von Schloss zu Schloss zu Schloss.

Salamander, Stachelschwein und Hermelin begegnen uns immer wieder entlang des Flusses, dessen Ufer unverbaut und nicht reguliert sind. Wild wie vor 500 Jahren mit kleinen Inseln und Sandbänken. Die Brücken aus Stein mit ihren harmonisch geformten Bögen, die Schieferdächer der Häuser, die Weiden, die sich dem Wasser zuneigen – viel hat sich nicht geändert, seit die Könige hier mit ihrem Tross entlangzogen. Der Schrei eines Vogels . . . Die nebelig-sanfte Melancholie, die mit der Feuchtigkeit vom Fluss aufsteigt. Dann wieder ein Sonnenuntergang, der alles ringsum in warmes, rötliches Licht taucht. Und im Abstand von 20 oder 30 Kilometern die Silhouette eines Schlosses über dem Ufer schwebend mit Erkern, Türmchen und Rauchfängen, die sich im Wasser spiegeln. Architektur, Natur, Kunst in Einklang.

Es gibt keine bessere Art, sich der Renaissancewelt zu nähern als per Rad, im verlangsamten Modus, sozusagen. Die Perspektive ist die gleiche wie zu der Zeit, als Besucher hoch zu Ross über die Zugbrücke ritten und erst im Saal, unmittelbar vor des Königs Thron, aus dem Sattel gehievt wurden. Es ist die Zeit vor dem Absolutismus. Versailles war noch nicht gebaut. Der König residierte einmal da, einmal dort an der Loire. Er blieb nie länger als zwei Wochen in einem Schloss. Bei jedem Ortswechsel setzten sich an die 10.000 Personen mit ihm in Bewegung. Sie reisten wie wir entlang der Ufer der Loire.

Gleich bei der Ankunft in Blois erregt ein seltsames Tier unsere Aufmerksamkeit: Das Porc-épic, das Wildschwein, kunstvoll in Stein gehauen, wacht über dem Eingang, auf den Spitzen seiner Stacheln sitzt eine mit der französischen Lilie verzierte Krone. Der 1462 hier geborene Ludwig XII. wählte das robuste Tier zu seinem Maskottchen. „Gefährlich in der Nähe wie aus der Distanz“ heißt die Botschaft, die der Betrachter assoziieren sollte. Seine Gemahlin, Anne de Bretagne, führte das weiße Hermelin im Wappen, Symbol für Reinheit und Unschuld. Dem Salamander, der sowohl an Land als auch im Wasser leben konnte, wurde wiederum die Fähigkeit zugesprochen, den Flammen standhalten zu können, weshalb Franz I., Ludwigs Nachfolger, ihn zu seinem Erkennungsmerkmal machte. In einer Zeit, als jeder jedem misstraute und Mord und Intrige an der Tagesordnung standen, bildete die Heraldik offenbar so etwas wie einen Kodex, der in moralischer Hinsicht die Richtung vorgab.

Schauriger Comic

In Katharina von Medicis Arbeitszimmer, dem Studiolo, birgt die mit Kunstwerken verzierte Holztäfelung vier Verstecke, die durch einen Geheimmechanismus geöffnet werden können. Die Königin, die aus ihrer Kinderzeit in Florenz einiges gewohnt war, soll darin Gift aufbewahrt haben. Durchaus möglich. Damals wüteten die Religionskriege, und der prunkvolle Ratssaal von Blois wurde zum Schauplatz eines Politdramas. Da er ihm zu mächtig wurde, ließ der König den Duc de Guise, Anführer des katholischen Clans, durch seine Leibwache bei helllichtem Tag ermorden. Ein melodramatischer Kinofilm aus dem Jahr 1908, einer der ersten Schwarz-Weiß-Streifen überhaupt, bringt das schaurige Ereignis auf die Leinwand. Er flimmert im Ratssaal über einen Flatscreen als ergänzende Dokumentation. Auch eine Reihe von Gemälden, die im Lauf des 19. Jahrhunderts das makabre Event in Szene gesetzt haben, sind ausgestellt. Ihre chronologische Anordnung erinnert an einen Comic.

Man muss nicht unbedingt viel Interesse für französische Geschichte aufbringen, um Gefallen an einem Besuch der Loire-Schlösser zu finden. Museumsdidaktisch ist jedes von ihnen State of the Art. Nirgendwo in diesen alten Gemäuern begegnen uns Staub oder Spinnweben. Stattdessen Persönlichkeiten, die uns immer vertrauter werden, je länger wir dem Lauf der Loire folgen. In Chaumont-sur-Loire treffen wir wieder auf Katharina von Medici. Sie erwarb das Anwesen 1550 und nützte es als Treffpunkt zur Jagd sowie als Etappenstützpunkt zwischen den Schlössern Blois und Amboise. Später ging es in den Besitz der Erbin eines der größten Zuckerbarone des Landes über.

Parallele Bildwelten

Die Fin-de-Siècle-Salons der Familie du Broglie waren noch bis 1938 bewohnt und entfalten eine mondäne Atmosphäre. Die vielen Fotografien an der Wand dokumentieren Klatsch und Glamour rund um eine Prinzessin, die durch den Crash 1928 ihr Vermögen verloren, 73-jährig nochmals geheiratet hat – einen rund dreißig Jahre jüngeren Prinzen! – und mit 86 ihre Tage in einem Pariser Luxushotel beendet hat. Einen bestürzenden Kontrast zur Opulenz der Wohnräume bilden die Gästezimmer unter dem Dach. Sie stehen leer, nur der Blick aus dem Fenster rahmt die Flusslandschaft draußen ein und schafft parallele Bildwelten zu den künstlerischen Arbeiten, die seit 2011, als das Schloss in den Besitz der Region gelangt ist, ausgestellt werden. „Fleurs fantômes“ („Fantomblumen“) nennt der Mexikaner Gabriel Orozco seine Bilder, die Schicht für Schicht die Motive jener Blumentapeten freilegen, die einst die Räume hier schmückten und auf romantisch-verträumte Art Vergänglichkeit dokumentieren.

Die Tour heißt nicht umsonst die „Königsroute“. Es ist eine Begegnung mit europäischer Geschichte. Figuren, die in italienischen, französischen, deutschen oder englischen – jedem europäischen – Geschichtsbuch auftauchen, nehmen lebendige Gestalt an. Darunter auch: Maria Stuart, die Medicis und Leonardo da Vinci. Vor unserem geistigen Auge sehen wir ihn als alten Mann, wie er die Ufer des Flusses entlangreitet, Zeichnungen für einen Kanal anfertigt, der die Loire mit der Saône verbinden soll, wie er eine ideale, utopische Stadt entwirft und für den König einen Löwen baut, der das Maul aufreißt und dabei eine Lilie zum Vorschein bringt. Der Uomo Universale kam 1516 an die Loire auf Einladung von Franz I., für den er in Amboise Feste organisierte. Das Schloss dominiert die etwas tiefer liegende Stadt, und um es zu erreichen, wird dem Besucher ein kleiner Fußmarsch abverlangt. Am Empfang wartet ein junger Guide, der seinen Vortrag damit beginnt, dass er ein iPad aufklappt und uns virtuelle Porträts der wichtigsten Persönlichkeiten zeigt. Ihr vor 500 Jahren eingefangener Blick wirkt unmittelbar und direkt wie ein Selfie.

Franz I. galt als Bonvivant. Er war 1,98Meter groß, 100Kilo schwer und liebte das gute Essen. Bis zu vierzig verschiedene Speisen ließ er bei einer Mahlzeit auftragen. Wild, Fisch und Geflügel, auch Schwäne und Pfauen waren darunter, auffällig drapiert auf großen Silberschüsseln. Gegessen wurde mit drei Fingern. Es ist eine Welt für sich, die sich einem da erschließt. Und wer an einem Tag zwei Schlösser besichtigt, wird von dem Geist dieser großen Epoche so gefangen genommen, dass er sich selbst darin zu bewegen beginnt.

„Mona Lisa“ im Gepäck

Wir stülpen wieder unsere Helme über, senken das imaginäre Visier, schnüren das Wams enger und steigen in den Sattel. Eine hurtige Talfahrt bringt uns zu dem 500 Meter entfernten Clos Lucé. Eher Herrenhaus denn Schloss war es Leonardo da Vincis Lebensmittelpunkt von 1516 bis zu seinem Tod 1519. Er reiste mit drei seiner Gemälde im Gepäck an, darunter „La Gioconda“, die heute im Louvre zu bewundern ist. Wie sie dorthingelangt und was ihr seither widerfahren ist, erfahren Besucher auch, aber im Wesentlichen geht's hier um eine Konfrontation mit dem Genie und dem kritischen Geist ihres Erschaffers. Leonardos berühmtesten Bilder flattern auf transparente Leinwände projiziert unter den Baumkronen im Park. Seine Gedanken zur Natur können – von Schauspielern vorgetragen – per Knopfdruck abgerufen und in sechs Sprachen angehört werden. Vieles – wie seine Voraussage der Erderwärmung – klingt höchst aktuell. Am einprägsamsten ist sein „Qui pense peu, se trompe beaucoup“, zu Deutsch: „Wer wenig denkt, irrt viel.“

DURCHS TAL DER KÖNIGE

Anreise: mit Air-France, www.airfrance.at sowie SNCF, www.voyages-sncf.com

Rückfahrt: Zurück nach Paris geht es über Tours, Dauer: 1 h 20 min.

Die Strecke „La Loire à Vélo“: Von Orleans bis St. Nazaire sind es 315 Kilometer durch Unesco-Weltkulturerbe. Routenvorschläge, Radverleih, Gepäcktransfer und Unterkünfte auf www.loire-radweg.org.

Die beschriebene Tour: „Das Tal der Könige”, von Orleans nach Tours. Drei Tage braucht man, um die 107 Kilometer zu absolvieren. Die Strecke birgt keine sportlichen Herausforderungen, die Wege sind genau beschildert, eben, bestens gewartet und sicher.

Die Schlösser. Château Blois: www.chateaudeblois.fr, Domaine Chaumont-sur-Loire: www.domaine-chaumont.fr, Château d'Amboise: www.chateau-amboise.com, Château du Clos Lucé: www.vinci-closluce.com

Wohnen und essen. In Amboise: Bistrot Chez Bruno, www.bistrotchezbruno.com, in Blois: La Maison de Thomas, www.lamaisondethomas.fr

Info: Atout France, www.france.fr

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2017)

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