Russland

Korianderbrot und Turmwachstum in St. Petersburg

Frisches Brot ist jetzt eine halbe Stunde entfernt
Frisches Brot ist jetzt eine halbe Stunde entferntUnsplah (Louise Lyshøj)
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Russische Gastfreundschaft lohnt sich zu jeder Jahreszeit. Während sich im Sommer vieles drängt, hat St. Petersburg in der Vor- und Nachsaison die Ruhe weg. Die Stadt wächst an den Ostseeufern und schießt in die Höhe.

Die blitzeblank geputzte Wohnung in der Tschaikowski-Straße riecht nach Korianderbrot. „Frisch aus dem Ofen“, sagt Walerija Popowa, die Mutter einer Freundin, die in Leipzig lebt. Seit es die Bäckerei am Litejni-Prospekt nicht mehr gibt, weil die Drogeriemarktkette "Das Lächeln des Regenbogens" den Laden übernommen hat, kauft sie ihre Backwaren direkt in der Brotfabrik neben der Metrostation Tschernischewskaja. Obwohl sie bis dorthin mehr als eine halbe Stunde geht, ist es für die kleine weißhaarige Frau „gleich um die Ecke“. In einem Riesenland wie dem der Russen werden Dimensionen anders wahrgenommen. Das scheint nicht zuletzt der Grund dafür zu sein, dass Kleinlichkeit für die meisten hier ein Fremdwort ist.

Zum Duft des Brotes gesellt sich eine wunderbare Aussicht. „Stünden dort die Häuser nicht, könntest du die Newa sehen“, sagt Walerija mit Blick durchs Küchenfenster auf die blechgedeckten St.Petersburger Dächer, die im klaren Licht der Morgensonne schimmern – rostrot die alten, die sanierten himmelblau bis silbermatt. Dass immer mehr Waghalsige zum Spaß drübergehen, ärgert sie: „Es ist gefährlich, illegal, und die kaputten Dächer werden davon auch nicht besser.“ Meistens sind es Jugendliche, die solche halsbrecherischen Touren organisieren und damit nicht schlecht verdienen.

Deutsche Wörter flossen ein

Walerija brüht Kaffee – wie die meisten Russen ganz orientalisch über offenem Feuer in einem Kännchen. Im Flachbildfernseher über dem Kühlschrank beginnt gerade eine Sendung über Jazz, den sie so liebt. Sofort greift sie zur Fernbedienung und drückt lauter. In ihrer Jugend war „westliche Musik“ verboten. „Es hat sich viel geändert – zum Glück“, meint die 85-Jährige, die in Leningrad geboren wurde, darauf stolz ist, dass es wieder St.Petersburg heißt und ihre Stadt immer schöner und moderner wird.

Zu essen gibt es belegte Brote, die auf Russisch „Buterbrody“ heißen. Von der ursprünglichen Bedeutung ist nur der ähnlich klingende Name geblieben. Denn die seit Langem überall in Russland beliebteste Vorspeise kann neben Brot aus allem Möglichen von Kaviar bis Käse bestehen – nur ausgerechnet „Buter“ muss nicht unbedingt dazu gehören.

Der Fundus deutscher Wörter ist im Russischen enorm. Dazu gehören „Schlagbaum“ für Schranke, „Parikmacher“ (von Perückenmacher) für Friseur oder „Galstuk“ (von Halstuch) für Schal. Aber auch „Aintopf“, „Akselbant“, „Chinterland“ und „Mitelschpiel“, „Rjuksak“, „Fejerwerk“ und „Ziferblat“ klingen recht witzig. Mit besonderer Vorsicht sind dabei jene Vokabeln zu behandeln, die zwar gleich oder ähnlich klingen, jedoch etwas ganz anderes meinen. Wer im Restaurant etwa „Kotlety“ bestellt, bekommt Fleischlaberln.

„Menschen aus dem Westen haben viel in unsere Stadt gebracht, haben mit an ihr gebaut“, resümiert Walerija. „Der Zar hat sie geholt – mit ihren Sprachen, ihrem Handwerk, ihrer Kunst“, sagt die studierte Architektin über Peter den Großen, der Russlands neue Hauptstadt im frühen 18. Jahrhundert mit vielen ausländischen Akteuren aus dem sumpfigen Boden an der Newamündung gestampft hat. „Darum ist es von Beginn an europäisch“, erklärt die Sankt Petersburgerin.

Durch das Fenster dringt Kanonendonner. Wie jeden Tag um zwölf Uhr mittags wird von der nahe gelegenen Peter-und-Paul-Festung ein Schuss abgefeuert – „nur so, damit die Leute wissen, wie spät es ist“, sagt Walerija. Schon seit mehr als 200 Jahren sei das üblich. Die frühbarocke Flussburg auf der Haseninsel ist ein Wahrzeichen und Teil der Silhouette von St.Petersburg. Weithin sichtbar ist die über 120Meter hohe vergoldete Turmspitze der Peter-Paul-Kathedrale. Seit deren Bestehen wurden dort fast alle russischen Zaren bestattet.

Raketenartiger Turm

Die längste Zeit der Stadtgeschichte durfte kein Gebäude höher als die Kathedrale sein. Das ist Vergangenheit. Heute mischt die Fünfmillionenmetropole in der Wolkenkratzerliga mit. Nach dem Fernsehturm (326Meter) ragen seit 2013 das Bürohochhaus Baschnja Lider (140Meter) und das Luxuswohnhaus Fürst Alexander Newski (125 Meter) in den Petersburger Himmel. Seit Anfang dieses Jahres gehört zu dieser Liste auch das – nach dem Fernsehturm Ostankino in Moskau (540 Meter) – höchste Gebäude ganz Europas: das 462 Meter hohe Lachta-Zentrum.

Neben der Zentrale von Gazprom sowie weiteren Geschäfts- und Konferenzräumen soll der multifunktionale Riese am Rand der Stadt vielen öffentlichen Einrichtungen für Sport, Gesundheit, Bildung und Entertainment Platz bieten, wie einem Planetarium, der „Welt der Wissenschaft“ für Kinder sowie einem Amphitheater für Wassershows. Ein Panaromarestaurant befindet sich in 315 Metern Höhe, weitere 55Meter darüber eine Rundumaussichtsplattform.

Doch nicht allein die Skyline von St. Petersburg wird durch den Superturm verändert. Die vielen Tausend Menschen, die dort arbeiten und gutes Geld verdienen werden, brauchen Platz zum Wohnen und für ihre Freizeit. Am nördlichen Stadtrand und weit darüber hinaus – in den kleinen Küstenorten zwischen Finnischem Meerbusen und ausgedehnten Nadelwäldern – hat der Bau des Lachta-Zentrums einen weiteren Bauboom ausgelöst. Walerija Popowa lädt ihren Gast zu einem Ausflug ein. Ihre Nichte Nastja holte beide mit dem Auto ab.

Schicke Datschas am Strand

Auf der Meeres-Chaussee geht es an der Baustelle des Wolkenkratzers vorbei – und an jeder Menge neuer, eleganter Häuser. Zu einem Hotspot der St. Petersburger Schickeria scheint sich Sestroretzk zu mausern. In dem kleinen Kurort mit den vielen Datschas, der sich auch per Bus und Bahn gut erreichen lässt, hatten auch die Popows früher ein kleines Sommerhäuschen. Wegen seiner windgünstigen Lage ist er neuerdings bei Kitesurfern sehr beliebt. Gute Neoprenanzüge machen sich dabei im Sommer bezahlt, denn leider ist die Wasserqualität in diesem Teil der Ostsee schlecht. Und dennoch gehen die Leute dort baden.

Die letzten Sonnenstrahlen in dem kurzen Zeitfenster des Tages nehmen die drei noch mit. Danach geht es für Nastja, ihre Großmutter und den Gast in die Stadt zurück, wo ein Konzert auf dem Programm der St. Petersburger Philharmoniker steht – die Leningrader Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch geht Walerija sehr nahe. Sie war ein kleines Mädchen, als das Werk 1942 während der Leningrader Blockade uraufgeführt wurde. Nun freut sie sich, gemeinsam mit vielen Menschen zu lauschen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2018)

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