Lang war der Weg ins kühle Kaschmir

Wer die 890 Kilometer von Delhi über Jammu nach Srinagar nicht fliegen kann, weil die Tickets meist lang im Voraus ausverkauft sind, muss etwa 24 Stunden Fahrzeit im Bus veranschlagen.
Wer die 890 Kilometer von Delhi über Jammu nach Srinagar nicht fliegen kann, weil die Tickets meist lang im Voraus ausverkauft sind, muss etwa 24 Stunden Fahrzeit im Bus veranschlagen.Getty Images
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Was man auf einer Fahrt im öffentlichen Autobus von Delhi nach Srinagar alles erleben kann: langes Warten auf die Abfahrt, kochendes Kühlwasser, Getriebeschäden, Übernachtungen im Freien, verdreckte Busse, nicht begehbare Klos.

Für jede weitere halbe Stunde Wartezeit werde er fünf Rupien zurückzahlen, versichert der geschmeidige Agent der Kashmir Holiday Travels. Darauf gehe er sogar eine Wette ein. So verlautet am Dienstag um 19 Uhr. Tags zuvor haben wir uns von einem Schlepper in das im Zentrum von New Delhi gelegene schäbige Office lotsen lassen und dort ziemlich rasch den Entschluss gefasst, die Fahrt mit dem Bus nach Srinagar sowie einen viertägigen Aufenthalt auf dem Hausboot zu buchen.

Eigentlich soll die Tour um fünf Uhr nachmittags beginnen. Überpünktlich hat man uns an den Startplatz bestellt. Nur wer rechtzeitig eintreffe, hieß es, komme sicher in den Genuss der reservierten Plätze. Als der Bus gegen halb acht noch immer nicht zu sehen ist und einige Passagiere protestieren, ergreift der Agent geschickt die Flucht nach vorn, führt mehrere Telefonate und verkündet, das Fahrzeug werde nun endgültig um 21 Uhr starten. Es müssten zwei Stoßdämpfer gewechselt werden. Bis dahin sollten wir irgendwo in der Nähe zu Abend essen. Die rund dreißig Fahrgäste verziehen sich willig-unwillig in die nahen Lokale und Buden. Eineinhalb Stunden später ist von dem Bus immer noch nichts zu sehen. Der Agent scheint dennoch von drohenden Blicken auf die Uhren und zynischen Zurufen („Time is running“) unbeeindruckt. Offenbar sind Verzögerungen in seiner Agentur entgegen den wiederholten Pünktlichkeitsbeteuerungen an der Tagesordnung.

Nach weiteren zwanzig Minuten trifft das Gefährt endlich ein: Ein ungepflegter, beige-grauer Bus mit defekten Ventilatoren und schmutzigen Fenstern – für indische Verhältnisse dennoch ein anständiges Gefährt. Bis das Gepäck eingeladen ist und sich die vierköpfige Mannschaft auf die Verteilung der Aufgaben geeinigt hat, vergeht nochmals eine Viertelstunde. Kurz vor zehn dröhnt der Bus dann los. Das lange Warten hat sich, wie sich rasch herausstellt, nicht gelohnt, auch wenn die Wette pflichtschuldig eingelöst wird. Mit 15 Rupien soll es sein Bewenden haben. Lächelnd zückt der smarte Agent drei grüne Scheine. Der Fahrpreis von 220 Rupien scheint diese Großzügigkeit zu gestatten.

Eingelassen haben wir uns auf den Trip mit dem Bus nur deshalb, weil die Flüge zwischen der indischen Hauptstadt und der Metropole Kaschmirs im Sommer auf Wochen hinaus ausgebucht sind und auch bei der Bahn kaum Tickets für reservierte Plätze zu bekommen sind. Wenn es in Delhi, in Uttar Pradesh oder Maharashtra schon am frühen Morgen drückend heiß ist und tagsüber bis 44 Celsius-Grade erreicht werden, flieht, wer es sich leisten kann, in die Hill Resorts, nach Simla, Dalhousie, ins Nainital oder nach Kaschmir. Um den Strom von Hitzeflüchtlingen zu bewältigen, verlässt Tag für Tag ein Heer von Bussen die indische Hauptstadt gen Norden. Das Geschäft mit Kaschmir teilen sich im Wesentlichen fünf Veranstalter, die neben dem Transport auch Unterkunft und Verpflegung auf Hausbooten anbieten. Für die 890 Kilometer von Delhi über Jammu nach Srinagar werden etwa 24 Stunden Fahrzeit veranschlagt.

Wetterleuchten als Menetekel

Dass der von den Kashmir Holiday Travels gecharterte Bus keinen neuen Streckenrekord aufstellen wird, scheint nach der stark verspäteten Abfahrt klar. Das Wetterleuchten, unter dem wir die nördlichen Außenbezirke Delhis queren, sollte zum Menetekel werden. Kurz nach dem ersten Tankstopp – indische Taxis und Busse pflegen fast leer zu starten und vom frisch kassierten Fahrgeld aufzutanken – streikt der Motor. Rumpelnd schafft das Gefährt eben noch den Rückweg zur Tankstelle. Erste Diagnose: Getriebeschaden. Mit den Bussen dieser Gesellschaft gebe es öfter solche Probleme, wissen einheimische Fahrgäste zu berichten. An eine Fortsetzung der Fahrt mit diesem Gefährt ist also nicht zu denken. Wie soll es weitergehen? Zurück ins 40 Kilometer entfernte Zentrum von Delhi oder kurz vor Mitternacht eine Unterkunft hier im Außenbezirk suchen? Oder hier an der Straße auf den nächsten Morgen, die Ersatzteile und die Reparatur warten?

Knapp drei Stunden lässt man uns im Ungewissen. Kurz vor zwei Uhr taucht aus dem Schleier eines vormonsunischen Regenschauers tatsächlich ein Ersatzbus auf. Der Wechsel von Besatzung, Passagieren und Gepäck ins neue Gefährt vollzieht sich vergleichsweise fliegend. Kurz nach zwei geht es weiter. 2.40 Uhr: Straßenkontrolle und Mautzahlung. Die nächsten Stunden vergehen im Schlaf. Gegen acht Uhr morgens Frühstückspause im Eagle Motel Beer Bar – genauer Standort unbekannt. Schätzungen zufolge liegt jedoch höchstens ein Viertel der Strecke hinter uns. Dabei sind wir schon 15 Stunden unterwegs. Wir geloben, für den Rückweg ein anderes Verkehrsmittel zu nehmen – um jeden Preis.

Vorerst nimmt uns aber der National Highway No. 2 hart in den Griff. Zu beiden Seiten der Straße trostlos dürre Ebenen, jede Menge Autowracks, die Fahrt durch Gobindgarh, eine von Indiens Eisenhüttenstädten, bescheidene und mehr als bescheidene Rastplätze. Ludhiana, ein riesiges Industrierevier, reizt mit dem Wegweiser ins 200 Kilometer entfernte Amritsar, die Stadt der Sikhs. Da wissen wir auch, dass bald die punjabischen Kontrollen drohen. Sie fallen aber ebenso wie die Foreigners Registration bei der Einreise in den Zwillingsstaat Jammu und Kaschmir überraschend zahm aus. Der Zöllner lässt nur voller Stolz wissen, dass er pro Tag hundert bis zweihundert Ausländer passieren lasse. Fragt sich nur, wie viele davon für die 500 Kilometer von Delhi bis hierher 24 Stunden brauchen.

Nächtliche Tragikomödie

Als der Bus abends im hässlich-heißen Jammu, der gleichnamigen Hauptstadt des nördlichsten indischen Bundesstaats eintrifft, kann man die bevorstehende nächtliche Tragikomödie nur ahnen. Es würde Sinn ergeben, hier Quartier zu nehmen und die 290 Kilometer lange Bergstrecke nach Srinagar am frühen Morgen des nächsten Tages anzutreten. Wer sich das Hotel nicht leisten könne oder wolle, solle eben im Bus bleiben.

Von dieser Ratio scheint der Lenker des Fahrzeugs aber nichts zu halten. Soweit wir mitbekommen, haben sich er und seine Begleiter in den Kopf gesetzt, Starterlaubnis für eine Nachtfahrt zu erhalten. Doch diese kann auf sich warten lassen. Unterdessen dürfen die Passagiere jeweils etwa zwei Stunden an einer Tankstelle in einem Etablissement, das seinem Namen (Modern Hotel) wenig Ehre macht, warten.

Abermals findet einer der indischen Leidensgenossen tröstliche Worte: So unbequem sei auch er noch nie mit dem Bus gereist. Die Trinkbrüder, die im Modern Hotel über indischem Weinbrand zusammensitzen, tun ein Übriges, um den uns verbliebenen Mut zu dämpfen. Die nächtliche Tour durchs Gebirge sei viel zu gefährlich, sagen sie, erst am Vortag habe es einen schweren Unfall mit angeblich 13 Opfern gegeben. „But if they like?“ Eigentlich wollen wir nicht. Aber gegen den Starrsinn des Fahrers, der offenbar partout nächtens die Vorberge des Himalaja bezwingen will, ist Einspruch sinnlos. Also starten wir gegen 23Uhr in die zweite – eine klare – Vollmondnacht. So kommt es, wie es kommen muss. Bereits neun Kilometer jenseits der Stadtgrenze wird der Bus von der Polizei angehalten, an der Weiterfahrt gehindert und auf einen Parkplatz zurückverwiesen. Die ersten Stunden der zweiten Nachthälfte verbringen wir teils im Bus dösend, teils auf der Parkfläche mäandrierend. Auch viele Einheimische ziehen es vor, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Sie breiten sogar mitgebrachte Decken und Planen aus und rollen sich darin ein. Gegen drei Uhr setzt der Chauffeur neuerlich zum Durchbruch an. Aber auch diesmal stoppt ihn der Posten unerbittlich. Gegen 5.15Uhr lässt man uns dann passieren. Erst jetzt erfahren wir, dass sich nur einen halben Kilometer von unserem unerquicklichen Dormitorium entfernt eine akzeptable Hotelunterkunft verborgen gehalten hat.

Was der zweite Tag an Belästigungen und Verzögerungen bringt, braucht den Vergleich mit den Ereignissen der Nacht nicht zu scheuen: zunehmende Verschmutzung des Fahrzeugs, aufgeregte Suche nach begehbaren Toiletten an den Stopps, Behinderung zuerst durch einen liegen gebliebenen Lastwagen des Militärs, von dem es hier wimmelt, dann an einer strategisch wichtigen Brücke, schließlich durch Straßenbauarbeiten. Die im Bus erforderlichen Serviceleistungen gibt es erst, wenn die Fahrgäste nach der Rast wieder Platz genommen haben. Als beim Aufstieg zum 2000 Meter hoch gelegenen Dörfchen Patnitop der Motor zu kochen beginnt und jede Viertelstunde Wasser aus Bergbächen geschöpft und Glas für Glas in den Kühler gegossen wird, halten wir einen erneuten Wechsel des Fahrzeugs für möglich. Doch er bleibt uns erspart.

Am frühen Nachmittag wird der 2500Meter lange Jahangar-Tunnel erreicht, der, wenn auch nicht im streng geografischen Sinn, so doch in den Seelen der Reisenden den Eintritt ins gelobte Land Kaschmir signalisiert. Der Stollen teilt sich in einen westlichen und einen östlichen Durchstich. Meistens wird davon nur einer benutzt. Die Trasse ist zwar befestigt und stellenweise matt beleuchtet, doch gibt es einige raue und feuchte Stellen, denen müde Achsen und Aufhängungen zum Opfer fallen können. Da hilft kein Pannendienst. Und belüftet werden die Tunnelröhren dem Anschein nach auch nicht.

Kurz bevor uns vor Skepsis und Abgasen übel wird, kommt das in kaschmirisches Licht getauchte Ende des Tunnels in Sicht. Da beginnen wir, wieder normal zu atmen. Angenehme Kühle, saubere Luft, alpiner Rahmen, fruchtbares Land, knorrige Typen – Kaschmir hält vom ersten Augenblick an, was man sich seit den Mogulkaisern davon verspricht. Auf den verbleibenden knapp hundert Kilometern bis nach Srinagar tut der Bus auch wieder, was der Chauffeur von ihm verlangt. Gegen halb sechs Uhr abends treffen wir am Dal-See ein. Eine halbe Stunde später wird auf dem Hausboot der erste Tee serviert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2019)

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