Belgien

Brüssel: Auf den Spuren der Schriftstellerin Emily Brontë

Brüssel, wie sie die berühmten Brontë-Sisters nicht ganz so sahen. Viele Spuren sind überbaut.
Brüssel, wie sie die berühmten Brontë-Sisters nicht ganz so sahen. Viele Spuren sind überbaut. (c) Piet De Kersgieter
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Mondäne Bürobauten und Einkaufsstraßen prägen das Bild von Brüssel. Nur wer genau weiß, wo, wird sie finden: Spuren der englischen Schriftstellerin Emily Brontë, die neun Monate ihres tragisch kurzen Lebens in Belgien verbrachte.

Anlass für eine Spurensuche bietet das aktuelle Emily-Brontë-Jahr: die 200. Wiederkehr des Geburtstags und der 170. Todestag der Autorin. Sie hat mit ihrem einzigen Roman, „Wuthering Heights“, einen Klassiker und mit dessen dämonischem Helden Heathcliff und der leidenschaftlichen Heldin Catherine Earnshaw Figuren voller emotionaler Intensität geschaffen. Während in ihrer Heimat Yorkshire viele Events rund um das Jubiläum stattfinden, bemüht sich in Belgien nur eine kleiner Kreis von Enthusiasten der Brüsseler Brontë-Gruppe, ihre Protagonistin nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, und weist literarisch interessierten Touristen gern den Weg zu jenen versteckten Orten, die mit Brontë in Verbindung stehen und in kaum einem Reiseführer stehen.

Freilich: Vieles hat sich verändert seit 1842, als die 23-jährige Emily in Begleitung ihrer älteren Schwester Charlotte (die später als Verfasserin des Romans „Jane Eyre“ ebenfalls Weltruhm erlangen sollte) hier lebte, um sich durch das Aneignen von Französischkenntnissen in einer privaten Internatsschule für den Lehrberuf zu qualifizieren. Wer etwa, so wie die beiden, mit der Fähre von England nach Belgien reisen will, wird nicht im Nordsee-Badeort Ostende an Land gehen, sondern im 40 Kilometer entfernten Zeebrügge, und kann von dort, wenn er will, nach Ostende fahren – am kurzweiligsten mit der Kusttram, die die längste Straßenbahnstrecke der Welt bedient. Und während die Brontës von Ostende mit einer Leihkutsche in zwei Tagesetappen weiter nach Brüssel fuhren, schafft der Reisende anno 2018 die Strecke mit dem Zug in knapp mehr als einer Stunde.

Emily Jane Brontë, ein Bild von Charlotte Brontë
Emily Jane Brontë, ein Bild von Charlotte BrontëGetty Images

Die erste Ernüchterung lässt nicht lang auf sich warten. Das Hotel Cluysenaar in der Prachtstraße Rue Royale, in dem die Schwestern die Nacht nach ihrer Ankunft in der damals rund 100.000-Einwohner-Hauptstadt verbrachten, gibt es nicht mehr. Seit Jahren wird an dem Gebäudegerippe gewerkt. 2020, so heißt es, wolle man das Haus, das zwischenzeitlich als Astoria die erste Adresse für wohlhabende Reisende war, als Corinthia Hotel wiedereröffnen. Unweit dieses Hauses führt die Belliard-Stiege in die tiefer gelegene Altstadt. Heute werden die Stufen, obwohl vor einigen Jahren zu einer Doppeltreppe rund um einen Springbrunnen erweitert, nur von wenigen frequentiert, da sie in eine bedeutungslose Nebenstraße münden. Für die Brontë-Schwestern waren sie hingegen die wichtigste Verbindung zwischen der vornehmen Oberstadt, wo befreundete englische Familien residierten, und der Rue d'Isabelle, in der sich die Internatsschule befand. Weder Straße noch Schule sind erhalten.

Monumentaler Stadtumbau

Beide wurden Opfer der gigantomanischen Stadtentwicklungspläne von König Leopold II., der zur Weltausstellung 1910 eine vor Reichtum strotzende Metropole präsentieren wollte und dafür das gesamte historische Isabelle-Viertel niederwalzen ließ. An seiner Stelle ließ er (teilweise mit Gewinnen aus der brutalen Ausbeutung der Kongo-Kolonie) den Mont des Arts mit einem Park aufschütten, den Flusslauf der Senne mit Prachtstraßen, den heutigen Innenstadt-Avenues, überdecken und Repräsentationsbauten errichten. Am Ort des Mädcheninternats befindet sich heute ein Bankgebäude. Daneben steht das Palais der schönen Künste, im Volksmund verballhornend „Bozar“ (Palais des Beaux Arts) genannt. Früher war dort der Internatsgarten, in dem die Brontës oft ihren Gedanken nachhingen. Beide fühlten sich einsam fernab der Heimat. Heute würde man sie wohl als integrationsresistent bezeichnen: Für ihre belgischen Mitschülerinnen, allesamt noch im Teenageralter, fand vor allem Charlotte nur abwertende Worte. Ihre einzigen engeren Kontakte waren jene zu anderen englischen Familien in Brüssel, wo es sich billiger lebte als in gehobenen Londoner Kreisen. Emily, sonst in sich gekehrt, rebellierte gegen ihren Lehrer Constantin Heger: Ein guter Schriftsteller war für ihn, wer wie klassische Autoren zu schreiben vermochte. Für Emily hingegen standen Originalität und Fantasie an erster Stelle. Die Schulkolleginnen tuschelten über die englische Pfarrerstochter, die kaum ein Wort sprach und in konturlosen, überlangen Kleidern herumlief.

Eine von zwei Brüsseler Brontë-Erinnerungstafeln befindet sich an der Fassade des Bozar. Die zweite zweimal ums Eck in der Rue Terarken, in die man über die Jüdische Treppe noch tiefer, auf das Straßenniveau vor der Leopoldinischen Intervention, hinabsteigt. Wie durch ein Wunder ist das Straßenstück den Spitzhacken entkommen und präsentiert sich so wie zu jener Zeit, als die Brontës sie an den schulfreien Donnerstagnachmittagen durchschlenderten. Kopfsteinbepflastert dient die Straße aber nur noch als Lieferzugang zum Museum.

Straße unter dem Kunstberg

Einige Parallelstraßen weiter sind wenige Meter der alten Rue Villa Hermosa erhalten geblieben. Das Eckwirtshaus Prince of Wales, in dem auch Charles Dickens gastierte, wurde hingegen zu Wohnungen konvertiert. Mutige können sogar ein paar Schritte auf der ehemaligen Rue d'Isabelle spazieren: Ein kurzes Straßenstück wurde vor einigen Jahren bei Ausgrabungsarbeiten unter dem Mont des Arts zugänglich gemacht. Vom Nationalmuseum BELvue aus steigt man, zwölf Euro Eintritt löhnend, in die Kellerruinen des 1731 abgebrannten Coudenberg-Palasts hinab und von dort in die Rue d'Isabelle, tief unter der heutigen Erdoberfläche. Klaustrophobie darf man freilich keine haben.

Wieder im Tageslicht, ist auf der anderen Seite des Mont des Arts ein halbkreisförmiges Gebäude mit zwei langen Flügeln am Place du Musée nicht zu übersehen. Emily Brontë sah sich dort Ausstellungen an. Im runden Mitteltrakt befindet sich überdies die protestantische Kapelle, die die Brontës jeden Sonntag besuchten. Wer zu den Messzeiten kommt, kann auch einen Blick ins Innere werfen. Die goldenen Verzierungen sind dieselben, die die Brontës 1842 bewundert haben.

Steigt man den Berg hinauf, steht man wieder in der Rue Royale. Von dort aus führt die geschäftige Chaussee de Louvain, einst von Feldern gesäumt, dorthin, wo sich früher der protestantische Friedhof befand. Emily und Charlotte besuchten mehrmals das Grab ihrer besten Freundin in Brüssel, Martha Taylor, die 17-jährig im Oktober 1842 an Cholera gestorben war. An der Stelle des Friedhofs wurden ab 1874 im Zuge der Urbanisierung der Vororte Siedlungen errichtet, die Gebeine in den neuen Friedhof Evere überführt. Jene von Taylor dürften in einer anonymen Massengruft gelandet sein, da sich niemand fand, der für ein neues Grab zahlte. An der Stelle der einstigen „ewigen“ Ruhestätte findet man heute mehrstöckige Wohnbauten vor.

An der Rue Royale liegt auch der Königliche Park mit seinem Musikpavillon. Emily und Charlotte Brontë lauschten hier Konzerten und sehnten sich beim Wandeln in den Parkalleen nach Yorkshire. Die Heimat sahen sie früher als erwartet wieder. Anfang November erreichte sie aus England die Nachricht vom Ableben ihrer Tante. Unverzüglich machten sich die Schwestern via Antwerpen auf den Weg nach Hause. Während Charlotte kurz darauf für ein weiteres Jahr nach Brüssel zurückkehrte, um ihre Ausbildung fortzusetzen (vor allem aber, weil sie sich unglücklich in ihren Lehrer Constantin Heger verliebt hatte), blieb Emily in Yorkshire. Sie gab ihren Plan, Lehrerin zu werden, auf und begann ein Buch zu schreiben. Dass „Wuthering Heights“ ein Bestseller wurde, erlebte sie nicht mehr: Kurz nach der Veröffentlichung starb sie am 19. Dezember 1848 an einer Lungenentzündung, nachdem sie (gewohnt, ihren Willen durchzusetzen) ärztliche Hilfe verweigert hatte. Seither ist ihr Sterbeort Haworth eine Pilgerstätte für Fans. Und in Brüssel wacht die „Brontë-Gruppe“ über ihr spärlich vorhandenes Erbe im Stadtbild.

Infos

Emily Jane Brontë: 30. 7. 1818 in Thornton, Yorkshire, geboren, 19. 12. 1848 in Haworth, Yorkshire, gestorben. Einziger Roman, „Wuthering Heights“, („Sturmhöhe“) wurde weltberühmt.

Orte: The Brussels Brontë Group hilft Interessierten beim Spurensuchen, es gibt geführte Touren und am 6./7. April 2019 ein „Brussels Brontë Weekend“ thebrusselsbrontegroup.org

Brüssel-Info: https://visit.brussels/de, www.visitflanders.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2018)

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