Reise durch die eigene Stadt: Zu Gast in Wiens Tschocherln

Milieustudie, Arthur Fürnhammer
Milieustudie, Arthur Fürnhammer(C) Löcker-Verlag
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Arthur Fürnhammer besuchte Cafés, in denen schon zu früher Stunde Alkohol ausgeschenkt wird und die in kaum einem Gastroführer stehen.

Ein kleines, eher heruntergekommenes Lokal. Das ist eine der Definitionen, mit denen das Wort „Tschocherl“ erklärt werden kann. Und es ist wohl etymologisch auch mit dem – zumindest in Wien – etwas weitläufigeren Begriff „tschechern“ verwandt. Das wiederum kommt aus dem Rotwelschen und dem Jiddischen, bezeichnet den Vorgang des Sich-Berauschens – und erklärt damit einen Großteil dessen, was in einem Tschocherl schon im Lauf des Vormittags geschieht. Dass Arthur Fürnhammer nicht ganz in diese Welt passt, zeigt schon sein Blick auf das Glas Rotwein, das ihm Wirt Stefan Kolenac auf den Tisch stellt.

Und doch hat Fürnhammer in den vergangenen Monaten viel Zeit in dieser Art von Lokal, wie es das Gasthaus Stefan in Simmering ist, verbracht. Für eine Serie in der Wiener Straßenzeitung „Augustin“ besuchte er zahlreiche verruchte Cafés, unterhielt sich mit den Gästen und versuchte, die Tschocherl-Atmosphäre in Worte zu fassen. „Es ist ein geschlossenes soziales Umfeld“, erzählt der 41-Jährige. Betritt man ein normales Kaffeehaus, werde man nicht weiter beachtet – doch hier richten sich sofort die Blicke auf den Fremden. Wer ist das? Und was will er?

Karlimaus und der Silberbaron

Die Motivation, in dieses Wiener Soziotop einzutauchen, kam aus purer Neugier heraus. „Diese Lokale sind vom Milieu, in dem ich mich sonst bewege, wahrscheinlich am weitesten entfernt. Unter normalen Umständen würde ich da nie reingehen.“ Doch wie beim Reisen durch eine fremde Stadt reizte ihn dann doch das Exotische, das Ferne – und so wagte er den Schritt und stellte sich den fragenden Blicken der Stammgäste. Und es sind in jedem Tschocherl fast ausschließlich Stammgäste unterwegs: der Herr Karli im Espresso Florida, der von seinen Freunden Karlimaus genannt wird. Der Herr Gerhard im Café Na Und?, der auch als Silberbaron bekannt ist. Oder der Rudi, der früher Ferrari und Porsche repariert hat – und jetzt fast täglich im Gasthaus Stefan auf einen Kaffee und ein Achterl geht.

Es sind Menschen, die man vielleicht auch als Wiener Originale bezeichnen könnte. Und oft auch Menschen, für die das Tschocherl Wohnzimmercharakter hat. Ja, für die die Umgebung hier fast so etwas wie Familienersatz ist. Das ist auch eine Erkenntnis, die Fürnhammer bei seinen Recherchen gewonnen hat: „Die Leute sind nicht böser oder schlimmer als andere.“ Auch, wenn manche Lebensgeschichte weit entfernt davon ist, als reibungslos bezeichnet zu werden.

Dementsprechend sind Lokale wie diese eher solche, bei denen man nicht so genau hinschaut. Ja, oft fallen sie gar nicht auf, weil die Welt in ihnen so fern der eigenen ist. „Und es gibt viele solche Lokale“, erzählt Autor Fürnhammer. Man muss nur genau schauen. „Ich bin ein Flaneur, und ich habe mittlerweile eine selektive Wahrnehmung“, erzählt er. Soll heißen, er weiß schon genau, wie und wohin er schauen muss, um irgendwo ein neues Tschocherl zu entdecken. In Ottakring, wo er selbst lebt, aber auch in anderen Bezirken, anderen Teilen der Stadt, die er auf der Suche nach neuen Lokalen durchstreift. Wobei es sich mitnichten um ein reines Wiener Phänomen handelt. „Die gibt es auch in Linz, wo ich herkomme, oder in anderen Städten.“ Zum Beispiel in München, wo es mittlerweile auch schon Führer durch die Boazn in verschiedenen Bezirken der bayerischen Hauptstadt gibt. („Boazn“ leitet sich übrigens wie das Wiener „Beisl“ vom jiddischen „bajis“ ab, das für „Haus“ steht.)

Für Fürnhammer, der selbst eine bewegte Vita vorweisen kann – er ist fertiger Jurist, hat sein Gerichtsjahr absolviert, hat drei Jahre als Saxofonist in New York, später als Statist im Theater in der Josefstadt gearbeitet, bis er bei einem Urlaub in Albanien das Schreiben für sich entdeckt hat –, gibt es also noch viele verruchte Lokale zu entdecken. Seine „Augustin“-Reportagen hat er als „Tschocherl-Report“ bereits in Buchform herausgebracht, im kommenden Jänner ist eine Fortsetzung in der Wiener Stadtzeitung „Falter“ angesetzt. Erfahrung, wie man in solchen Lokalen recherchiert, hat er ja mittlerweile. Und am Ende war auch das Glas Rotwein auf seinem Tisch leer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2013)

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