Franz Schuh: "Die Spießer sind die großen Gewinner"

Franz Schuh
Franz SchuhDie Presse
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Journalisten und Soziologen bringen den österreichische Schriftsteller Franz Schuh in Rage, denn "sie formulieren, wer in unserer Gesellschaft die Verlierer und die Gewinner sind".

Warum haben Sie Philosophie studiert?

Franz Schuh: Ich habe das Richtige studiert, ohne die geringste Ahnung zu haben, was das Falsche gewesen wäre. Ohne jede Ahnung habe ich erraten, dass die Philosophie etwas ist, was mich ein Leben lang unterhalten wird.

Was hat Sie als Jugendlicher zur Philosophie gebracht?

Aus produktiver Langeweile las ich unendlich viel Literatur. Als Zehnjähriger klappte ich den letzten Band von Karl Mays Gesamtwerk zu, begann sofort mit der Lektüre Dostojewskis – und habe den Unterschied nicht einmal bemerkt.

Das klingt ein wenig kokett.

Manchmal, um es kokett zu sagen, haben auch Tatsachen – gegenüber einer Lebensgeschichte – den Anschein von Koketterie. Ich finde an Karl May faszinierend, dass seine Bücher heute für mich absolut nicht faszinierend sind – so wie eine vergangene Liebe, die man sich nicht mehr erklären kann. Von May kann man lernen, dass man ruhig ein „schlechter“ Schriftsteller sein darf, wenn man es nur auf eine Weise ist, die die Leser – in diesem Fall Kinder – dazu bringen kann, durch ihre Fantasiebegabung die öden Texte mit einem Lichterglanz zu versehen.

Allein der Rezipient macht das Werk zu einem guten?

Das nennt man Rezeptionsästhetik.

Und was ist der Beitrag des Autors?

Wenn Sie mich fragen, ob ein Autor für sich ein großartiger Autor sein kann, ohne dass es jemand anderer weiß, antworte ich: Ja. Das Problem ist nur, ich kenne den Autor nicht! Aber Sie haben mit Ihrer Frage recht: Die dogmatische Auslegung der Rezeptionsästhetik (Der Leser allein...) führt in die Irre. Der jüngst verstorbene Philosoph Odo Marquard, an den ich in diesen Tagen oft denke, hat gefunden, dass auch das literarische Leben nur durch „Gewaltenteilung“ erträglich ist: Eine Gewalt hat der Autor, eine der Leser, eine der literarische Markt. Erst die Teilung sichert jedem am ehesten die Freiheit.

Können Sie Dostojewski heute noch lesen?

Dostojewski kann Erniedrigte und Beleidigte, Süchtige, Spieler, Idioten, Abhängige so darstellen, dass ihnen die Würde bleibt – darin ist er der größte Autor. Jede Kreatur, so scheußlich und abgewrackt sie ist, verkörpert doch noch eine Utopie. Das ist auch bei Joseph Roth so. Da geht es ebenfalls um eine Lebensform, die nichts mit Siegen zu tun hat, nichts mit Erfolgen, die (laut Enzensberger) immer etwas Tückisches haben. Tückisch redet man zum Beispiel in der Siegersprache von „Modernisierungsverlierern“. Eine gestanzte Formulierung, die dazu dient, die Verlierer, die in dieser Gesellschaft ohnehin schon verloren haben, noch einmal aufzuspießen. Die Spießer sind die großen Gewinner.

Wen meinen Sie konkret?

Zum Beispiel Journalisten oder Soziologen, die in ihren Instituten sitzen, und die Sekretärin bringt ihnen den Kaffee. Leute, die formulieren, wer die Verlierer in unserer Gesellschaft sind. Sie zeigen auf sie hin, also von sich weg– zu ihnen gehören sie nicht! Wir haben für den Umgang mit sogenannten Verlierern und Gewinnern fast nur die dumme amerikanische Formel „success and failure“. Du gehörst entweder zu den einen oder zu den anderen. Die Literatur hat dagegen mehr Möglichkeiten, Menschen voneinander zu unterscheiden. Auch das hat mich für sie begeistert.

Aber wie haben Sie sich von Dostojewski zur Philosophie durchgehangelt?

In der Literatur treten Unterscheidungen auf, die man begrifflich fassen möchte. Die wahren Dichter halten sich von Begriffen fern. Es gibt aber eine Verwandtschaft von Begriff und Anschauung, die sich im Verhältnis von Literatur und Philosophie zeigt. Deshalb kann man im Philosophiestudium auch viel über Literatur lernen. Ein Titel von Dostojewski existiert in zwei Übersetzungen: „Schuld und Sühne“, „Verbrechen und Strafe“, und das ist jeweils eine andere Philosophie.

Entsprach das Studium Ihren Erwartungen?

Am Anfang ist die Philosophie so, als würde man in einen aussichtslosen, nicht überblickbaren labyrinthischen Garten geraten. Man hat zwar immer eine Frucht dieses Gartens in der Hand, aber muss damit leben, dass immer irgendein berühmter Zaungast diese Frucht als miese und übel riechende Ausgeburt bezeichnet. Die Schwierigkeit ist also, die Konfliktgeladenheit der Disziplin gesund zu überstehen.

Wie haben Sie das geschafft?

Wichtig – damals in den 1960er-Jahren– waren nicht die öden, langweiligen Plato-Seminare. Wichtig waren Gespräche an den Stiegenaufgängen. Wichtig war, was die Mitmenschen an geistiger Physiognomie zu erkennen gaben, diesen pädagogische Eros zum Beispiel, diese Begeisterung für Fragen und Antworten, mit denen man kein Auto verkaufen kann.

Was Ihnen sicherlich damals bewusst war.

Für meine Umgebung war charakteristisch, dass wir die Tatsache, einmal ins Arbeitsleben hinauszumüssen, erfolgreich vor uns geheim gehalten haben. Ich erinnere mich an einen deutschen Professor, Hermann Lübbe, der zur Studentenrevolte ungefähr Folgendes geschrieben hat: „Mir ist völlig egal, was die da aufführen. Sie können tun, was sie wollen. Aber eines vergebe ich ihnen nicht, dass sie die Akzeptanz der industriellen Gesellschaft behindern, dass sie mit ihrer hedonistischen ,Arbeitsmoral‘ den Sinn für die Notwendigkeiten und die Härten der industriellen Gesellschaft (zer-)stören.“ Ich glaube, das hat er richtig erkannt: Er merkte die Absicht und war verstimmt.

Lübbe war wohl der Meinung, das Lustprinzip halte dem Realitätsprinzip nicht stand.

Eine der Entdeckungen der Philosophie ist die Wichtigkeit des Alltags. Diese Überhöhungen durch Pathos, Heroismus oder sogenanntem Idealismus, für die die Philosophie sich ja auch hergegeben hat, scheitern daran, dass man im Alltag zurechtkommen muss. Odo Marquard hat das Problem in dem Text „Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes“ behandelt. Man darf weder das Fest verabsolutieren noch den Alltag – es kommt darauf an, dass die Differenz bestehen bleibt.

Ist das nicht eine fast triviale Erkenntnis?

Es ist eine richtige, fast spießbürgerliche Erkenntnis: Im Alltag geht man seinen Geschäften nach, und zum Ausgleich für das Anödende der Routinen werden Feste benötigt. Man möge weder das Fest durch den Alltag noch umgekehrt den Alltag durch das Fest ersetzen. Sonst wird die Balance zerstört.

Und was wäre die Konsequenz?

Diese Balance ist wohl eine Voraussetzung für ein gutes Leben. Früher habe ich an Marquards Text eines wenig aktuell gefunden: nämlich, dass der Alltag durch den Krieg kompensiert werden könnte. Der Krieg ist eines der Versprechen, aus dem Alltag herauszukommen. Warum haben so viele Leute den Krieg akzeptiert? Weil er ihnen auch half, das Joch des Alltags loszuwerden. Die gescheitesten Leute haben das Raus aus der Alltäglichkeit propagiert. Vor dem Ersten Weltkrieg war ihnen eben fad. Heute merkt man der internationalen Lage an, dass der Ausbruch aus der Alltäglichkeit ein Tagesordnungspunkt ist und dass der Krieg sich auch auf Gegenden ausdehnen könnte, in denen man den Frieden für eine Selbstverständlichkeit hält, zu der man nichts mehr beitragen muss.

Revolutionäre Geister würden bei Marquards philosophischen Gedanken aufheulen und schreien: Ein Fest darf nicht dazu führen, sich mit dem erdrückenden Alltag zufriedenzugeben!

Genau. Klugheit definiert Marquard als die Fähigkeit, den Ausnahmezustand zu vermeiden. Für Revolutionäre ist es klug, den Ausnahmezustand herbeizuführen. Marquard lehrte aber keine Zufriedenheit mit dem Erdrückenden. Er lehrte einen Reformismus, eine Verbesserung der Arbeitswelt und „eine neue Kultur der Feste“. Marquard hatte die „Verweigerung der Bürgerlichkeitsweigerung“ auf seine Fahnen geschrieben. Das wird von revolutionären Geistern, gerade wenn sie selbst sehr bürgerlich leben, gehasst. Das Kleinbürgerliche ist nicht selten die Lebenswahrheit, die energisch geleugnet wird. Wie sangen Waterloo und Robinson in den 1970er-Jahren?

Sie meinen „I don't need no new sensations. I just love my little world“?

Ach ja: Meine kleine Welt. Sie wird noch kleiner, wenn man dazu unfähig ist, Menschen zu achten, die politisch anders denken.

Steckbrief

1947
wurde der österreichische Schriftsteller und Essayist Franz Schuh in Wien geboren.

Er studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik.

2011
erschien sein Buch „Krückenkaktus – Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod“.

2014
wurde sein vorerst letztes Buch, „Sämtliche Leidenschaften“, veröffentlicht.

Schuh wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, etwa dem Preis der Leipziger Buchmesse, dem Tractatus-Preis des Philosophicums Lech und dem Österreichischen Kulturpreis für Literatur.

Herr Schuh, darf man Sie auch fragen...

1...ob Sie sich selbst als Philosophen bezeichnen würden?

Nie. Philosophie heißt die Liebe zur Weisheit. Da komme ich nicht mit. Ich liebe aber die Philosophen, weil sie die Liebe zur Weisheit lieben.

2...ob Sie denn die Weisheit und Wahrheit nicht genauso wie die Philosophen lieben?

Nicht in so einem Ausmaß, dass ich meine Freude an aufzuklärenden Lügen und Imaginationen von Verbotenem, also der menschlichen Komödie, verlieren würde.

3...woran Sie gerade arbeiten?
An nichts.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.05.2015)

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