Die Genetik ist tot! Lang lebe die Epigenetik!

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Lange vermutete man, dass nur zwei Prozent des Genoms aktiv sind und der Rest Müll ist. Aber nun zeigt sich, dass 80 Prozent aktiv sind und die zwei Prozent steuern: Eine neue Sicht der Gene ist überfällig.

Mit diesen Landkarten in der Hand können wir beginnen zu verstehen, warum Genvarianten Menschen für Krankheiten anfällig machen.“ Das erklärt Brad Bernstein (Harvard), und in ganz ähnlichen Worten formulieren Vertreter von 29 weiteren Forschungsgruppen in einem Publikations-Tsunami in Nature, Science und Genome Research, dass es nun endlich losgehe mit der Erkundung der Genomursachen von Krankheiten und Fehlentwicklungen. Man traut seinen Augen kaum und erinnert sich mit Wehmut an den 26. Juni 2000: „Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben erschaffen hat. Dieses tiefgreifende Wissen wird der Menschheit neue Heilkräfte bescheren und die Diagnose und Therapie der meisten, wenn nicht aller Krankheiten revolutionieren.“ So begrüßte US-Präsident Bill Clinton die komplette Sequenzierung des Humangenoms, flankiert war er von Francis Collins und Craig Venter, die in harter Konkurrenz das Werk vollendet hatten und in den Jubel einstimmten: Alzheimer, Diabetes und Krebs etc. etc. würden ihre Schrecken bald verlieren.

Die Medizin hat vom Genom kaum profitiert

„Die erhoffte Revolution ist nicht gekommen“, ernüchterte zehn Jahre später Nature: Die Medizin habe kaum vom Humangenom profitiert. Zu diesem Zeitpunkt wusste man in den Genetikerlabors schon lange, dass das alte Bild von den Genen allzu schlicht gestrickt war: Ein Gen war demnach ein exakt abgrenzbarer DNA-Abschnitt, der Instruktionen für die Produktion eines Proteins enthält – das Protein „kodiert“ – und sie von Gehilfen umsetzen lässt, erst wird die Information in RNA umgeschrieben („Transkription“), dann in Proteine übersetzt („Translation“). Aber von den drei Milliarden Basenpaaren, aus denen sich unser Genom zusammensetzt, bilden nur etwa zwei Prozent solche Gene, es sind etwa 20.000 Stück. Mit dem Rest wusste man lange nichts anzufangen, er galt als nutz- und tatenlos herumliegender Müll, „Junk-DNA“. Wäre er das wirklich, hätte ihn die Evolution allerdings schon längst entsorgt, deshalb vermutete man zunächst, dass diese Genomteile dem Ganzen Struktur geben.

Dann bemerkte man, dass manche DNA-Abschnitte in RNA übersetzt werden – aber nicht weiter – und dass diese RNA Gene steuert, sie instruiert, wann, wo und wie stark sie aktiv werden sollen: Das Genom ist schließlich in jeder Zelle gleich, aber im reifenden Gehirn eines Embryo etwa müssen andere Gene anders aktiv sein als im Auge eines Erwachsenen. Bei dieser Steuerung spielt nicht nur die „regulierende RNA“ mit, es gibt eine Vielzahl anderer epigenetischer Mechanismen, da werden Gene etwa chemisch verändert – durch das An-/Abhängen von Methylgruppen –, da werden Gene etwa durch die Art ihrer Packung („Chromatin“) ablesbar oder nicht, da interagieren sie mit Proteinen. Das alles führte 2003 zum nächsten großen Anlauf, das internationale Konsortium Encode (Encyclopedia of DNA Elements) nahm sich die Genregulierung vor, 2007 legte es eine Arbeitsprobe vor: Ein kleiner Genomabschnitt – ein Prozent – wurde analysiert, dabei zeigte sich, dass es so gut wie keinen „Junk“ gab: 80 Prozent aller DNA wurde in RNA umgeschrieben.

Gene sind wie Lampen mit Lichtschaltern

Und jetzt hat man das gesamte Genom – in einigen Zelltypen und Entwicklungsstadien – durchgemustert: Wieder sind 80 Prozent aktiv, insgesamt vier Millionen regulatorische Regionen wurden identifiziert, 200.000 regulieren Gene, die Details müssen noch erhellt werden: „Das Genom ist wie eine Batterie von Schaltern in einem Raum voller Lampen“, vergleicht etwa Job Dekker (University of Massachusetts), „es gibt tausende Lampen und vier Millionen Schalter. Wir wissen noch nicht, welcher Schalter welche Lampe steuert. Einige wirken bei der gleichen zusammen, andere steuern mehrere.“

Was man immerhin schon gewusst hat, ist, dass diese regulatorischen Einheiten bisweilen mitten in den traditionellen Genen sitzen, und dass diese auch nach außen keine klaren Grenzen haben, oft überlappen sie sich: „Wir brauchen neue Definitionen der Gene“, schließt Thomas Gingeras (Cold Spring Harbor). Und das alles betrifft nur die regulierende RNA, es gibt aber auch regulierende Proteine und die regulierende Genpackung und die Methylierung und wer weiß was noch. Das Chaos ist so groß, dass man sich nur wundern kann, wie brav und den Regeln gerecht die Bohnen im Klostergarten des Gregor Mendel gedeihen. Und wenn es sich irgendwann gelichtet haben wird, kommt natürlich das nächste Problem, Brad Bernstein (Harvard) formuliert es: „Wir haben nun eine Landkarte der Positionen der Schalter im Genom. Aber was schaltet die Schalter an?“

Genetik & Epigenetik

Die klassische Genetik konzentrierte sich auf „Gene“, das sind DNA-Abschnitte mit spezifischen Informationen: Bauanleitungen für Proteine. Die stellen zwei Prozent unseres Genoms. Das ist in voller Länge seit 2000 sequenziert, aber die Funktion der restlichen 98 Prozent zeigt sich erst allmählich: Viele dieser DNA-Abschnitte enthalten auch Informationen: Sie steuern die „Gene“, instruieren sie, wann und wo sie wie aktiv werden sollen. Das nennt man Epigenetik.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2012)

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