Rituelle Landschaft rund um Stonehenge

Stonehenge
Stonehenge(c) EPA (Stefan Aufschnaiter)
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Vor 6000 Jahren, lange vor Errichtung der Megalithe, stand dort ein hölzernes Totenhaus. Österreichische Forscher haben es erkundet.

Die Leichen wurden entfleischt, zerteilt, die Körperteile wurden teils an verschiedenen Stellen begraben, einige Leichname wurden wieder ausgegraben und wieder bestattet: Es waren komplizierte Bestattungsrituale in dem 33 Meter langen, acht Meter breiten Holzhaus und davor. In Betrieb war es vor 6000 Jahren, lange vor Errichtung der Steine von Stonehenge (vor ca. 4500 Jahren), es war wohl die Begräbnisstätte einer Dorfgemeinschaft in der Nähe. Gegen Ende seiner Nutzungszeit wurde es mit weißem Kreidesediment, entnommen aus das Haus flankierenden Gruben, überschüttet, vielleicht, um es vor potenziellen Grabschändern zu verbergen. So wurde es zum Hügel, zum „long barrow“, als den man es heute kennt.

23-Quadratkilometer-Areal

Österreichische Forscher um Wolfgang Neubauer haben – in Zusammenarbeit mit Kollegen von der Universität Birmingham – unter die Oberfläche gesehen, ohne diese aufzugraben. (Darum trägt ihr Institut auch den gravitätischen Titel Ludwig-Boltzmann-Institut für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie.) Ihre wichtigsten Instrumente sind Magnetometer und Bodenradar, sie werden an Traktoren über den Boden gezogen, Ar um Ar, Hektar um Hektar. Denn das „long barrow“ ist zwar für Neubauer besonders interessant – weil diese Bauform in der Jungsteinzeit auch auf dem Kontinent verbreitet war –, aber seine Spurensuche geht weit darüber hinaus. Als den „Bereich, der von Stonehenge einsehbar ist“, definiert er sein Forschungsareal: Es umfasst 23 Quadratkilometer. „Sie brauchen einen ganzen Tag, um seinen Umfang abzugehen.“ Zwölf Quadratkilometer davon haben die Forscher geophysikalisch vermessen, das sind 1250 Fußballfelder. Die Fläche von Stonehenge entspricht einem Fußballfeld.

Ziel für kranke Pilger?

Auf diesem riesigen Gebiet fanden sich keine Strukturen, die auf Felder, auf Landwirtschaft hinweisen. Auch keine großen Siedlungen: Die Menschen lebten offenbar nicht dort, sondern kamen nur zeitweise hin. Um was zu tun? Um religiöse Rituale abzuhalten? Politische Versammlungen? Um die Sterne zu beobachten? Oder, wie eine neue Theorie sagt, um Heilung zu suchen? Ein steinzeitliches Lourdes? Man weiß es nicht.

„Sicher ist, dass dort viele Menschen zusammenkamen“, sagt Neubauer. Auch von weit her. Etwa der „Amesbury Archer“, dessen Grab 2002 gefunden wurde: Er lebte und starb vor 4300 Jahren, mit ihm wurden viele Pfeilspitzen begraben. Gekommen war er aus den Alpen, das sagen die Isotopen in seinen Zähnen. Seine Knochen sagen, dass er gehbehindert war und eine schwere Verletzung am linken Knie hatte, dazu einen schmerzhaften Kieferabszess. Was für die Lourdes-Theorie sprechen könnte.

Dafür, dass Bestattungen eine wichtige Bedeutung im Gebiet um Stonehenge hatten, spricht, dass man von allen Gräbern einen Blick auf Stonehenge hat. Neubauer spricht von einer „rituellen Landschaft“, einem „Wallfahrtsort“, und vergleicht: „Normalerweise suchen wir die Kirche im Dorf oder das Dorf bei der Kirche. Bei Stonehenge sind es viele Kirchen ohne Dorf.“

Auch das riesige „Superhenge“ Durrington Walls sieht Neubauer nicht, wie immer wieder vermutet wurde, als „Stadt der Lebenden“, die zur „Stadt der Toten“ Stonehenge gehörte: „Das war keine befestigte Siedlung.“ Sein Team fand unter dem Wall, der ein Areal von 20 Hektar umschließt, 70 große Gruben, die zur Fundamentierung einer Reihe von Monolithen oder Holzpfosten dienten. In der so gewaltig umsäumten Senke entsprangen einst zwei Quellen, die nur im Winter Wasser führten und zu ganz bestimmten Zeiten plötzlich zu sprudeln begannen. Wer diese Zeiten vorauszusagen verstand, konnte damit Menschen beeindrucken und vielleicht ein „religiöses Brimborium“ um diesen Wasserzauber etablieren, spekuliert Neubauer.

Bereits 2010 hatte Neubauer einen hölzernen Zwilling von Stonehenge gefunden. Nun konnten er und sein Team beim British Science Festival in Birmingham stolz berichten, dass sie 17 bisher unbekannte Monumente aus der Zeit von Stonehenge gesichtet haben, alle aus Holz. Was wieder unterstreicht, dass das steinerne Stonehenge eine zentrale Rolle spielte.

Weg der Sonne

Nördlich von Stonehenge liegt der drei Kilometer lange Cursus, so benannt, weil man ihn einst für eine römische Rennbahn hielt. Er verläuft von Ost nach West. An seinen beiden Enden fanden die Archäologen (heute unterirdische) Gruben, denen Vince Gaffney von der Universität Birmingham rituelle Bedeutung zuschreibt: Sie sollen den Sonnenaufgang und -untergang zur Sommersonnenwende markieren. Dabei war die Grube, die dem Sonnenaufgang entspricht, von Stonehenge aus sichtbar, die andere nicht, weil sie hinter einem kleinen Hügel verborgen liegt. Haben dort steinzeitliche Zeremonienmeister mit Feuer und Rauch gearbeitet?

Es macht die Faszination der Landschaft von Stonehenge aus, dass man sich solche Feiern vorstellen kann. Und dass sie rätselhaft bleibt. Auch nach den Ergebnissen des Stonehenge Hidden Landscape Project, die Gaffney mit einem in seiner Trivialität vieldeutigen Satz umschreibt: „Stonehenge may never be the same again.“

WIEN UND BIRMINGHAM

Forscher des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Archäologische Prospektion und Virtuelle Archäologie und der Universität Birmingham arbeiten im Stonehenge Hidden Landscapes Project zusammen. Es wurde von einem TV-Team begleitet. Der ORF sendet die Dokumentation am 14. und 21.11.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2014)

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