Fördert Ungleichheit den sozialen Frieden?

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Ein italienischer Forscher ist auf ein Rätsel gestoßen: Je ungleicher die Einkommen in einer Gesellschaft verteilt sind, desto geringer sind die Klassengegensätze in den Einstellungen. Das Ergebnis ist weniger paradox, als es erscheint.

Wien. Renzo Carriero ist ein Forscher, der Vertrauen einflößt. Er könnte jene Skeptiker beschämen, die glauben, bei Studien in den Sozialwissenschaften käme nur das heraus, was nach Wunsch und Weltsicht der Autoren herauskommen soll. Denn der italienische Soziologe staunt selbst, wenn er seine Ergebnisse referiert. Er behauptet auch nicht, sie gleich deuten zu können: „Ich glaube, das Rätsel muss erst gelöst werden.“ Ein schöner Beleg für vorurteilsfreie Wissenschaft.

Was aber hat den Dozenten der Uni Turin argumentativ aus dem Gleichgewicht gebracht? Er untersuchte Daten einer Wertestudie aus 44 europäischen Ländern. Dort fragte man die Menschen unter anderem danach, was sie von Umverteilung halten. Auf einer Skala zwischen eins und zehn, zwischen zwei pointierten Standpunkten: „Einkommen sollen gleichmäßiger verteilt werden“ und „Es sollte mehr Anreize für persönliche Leistung geben“. Dabei zeigt sich zunächst, wenig überraschend: Gutverdiener pochen eher auf Leistung, kräftige Umverteilung hat in der Unterschicht mehr Anhänger. Das nennt man eben Klassengegensätze, oder ganz martialisch Klassenkampf.

Es liegt an den Armen

Aber Carriero wollte mehr wissen. Er verglich die Ergebnisse der einzelnen Länder mit der dort herrschenden Ungleichheit, gemessen durch den Gini-Koeffizienten fürs verfügbare Einkommen. Man möchte meinen, in ungleichen Gesellschaften sollten die Klassengegensätze besonders scharf sein. Die Unterschicht in Großbritannien braucht Umverteilung zur Absicherung ihrer Lebensrisiken wohl dringender als jene im egalitären Norwegen. Aber es zeigt sich: je ungleicher die Einkommensverteilung, desto ähnlicher die Einstellungen zwischen den Klassen.

Das hatte sich freilich schon in anderen Arbeiten angedeutet. Carrieros Kollegen zogen dort den vorschnellen Schluss, es liege an der Oberschicht. Ihre Hypothese: Die Reichen haben ein schlechtes Gewissen, erwarten schlechtere Schulen, steigende Kriminalität oder soziale Unruhen. Wer um Leib und Leben fürchten muss, sobald er mit seinem Sportwagen versehentlich die falsche Autobahnausfahrt nimmt, fühlt sich nicht wohl. Er ist eher bereit, um des sozialen Friedens willen mehr abzugeben. Zumal er ja, typischerweise, in seinem liberalen Minimalstaat bisher wenig Steuern zahlt. Das klingt plausibel. Carriero aber fand nun heraus: Es liegt nicht an den Reichen, sondern an den Armen. Sie pochen in ungleichen Gesellschaften weniger auf Umverteilung. Dadurch verblassen die Klassengegensätze. Das hält der Autor des Aufsatzes „More Inequality, fewer Class Differences“ für paradox.

Das Phänomen Trump

Aber ist es das wirklich? Tatsächlich seltsam wäre, wenn sich an ein und demselben Ort bei steigender Ungleichheit die geistigen Gegensätze einebnen. Das gibt die Studie aber nicht her. Es werden nur, zum gleichen Zeitpunkt, Länder verglichen – und damit verschiedene Kulturen. Carriero hat auch ein paar mögliche Erklärungen parat: Die soziale Mobilität ist in ungleichen Gesellschaften oft höher. Wenn Schlechtverdiener Chancen zum Aufstieg sehen, setzen sie nicht auf Almosen vom Staat. Auch wenn die Verheißung vom „Land der Möglichkeiten“ gar nicht mehr stimmt: Schon das Gefühl, dass Leistung sich lohnt oder zumindest lohnen sollte, kann eine Gesellschaft voller Gegensätze zusammenhalten.

Womit wir in Amerika wären. Wohl nur wenige werden soziale Skrupel zu den starken Seiten von Donald Trump zählen. Dennoch erweist sich der Milliardär im Präsidentschaftswahlkampf als Idol der zu kurz Gekommenen. In keinem anderen Industriestaat wehren sich so breite Schichten der Bevölkerung so heftig gegen höhere Steuern für mehr Wohlfahrt wie in den USA. Und in keinem anderen ist die Ungleichheit in den letzten drei Jahrzehnten so stark gestiegen.

Die Diskussion über Ungleichheit findet in Österreich einen fruchtbareren Boden – obwohl die Veränderungen bei der Verteilung der verfügbaren Einkommen hierzulande unter der Wahrnehmungsschwelle liegen, die der große britische Ungleichheitsforscher Anthony Atkinson bei zwei bis drei Gini-Punkten ausgemacht hat. Dass die Botschaft gerade dort, wo sie eher nötig wäre, nicht ankommt, könnte man laut Carriero so verstehen: Lobbys, Politiker und Medien haben dafür gesorgt, dass die Laissez-faire-Ideologie sich in den Köpfen aller verfestigt hat. Eine Art Gehirnwäsche also.

Man kann sein Ergebnis aber auch positiv deuten: Die Werteumfrage als Basis fand in hoch entwickelten Staaten statt (und in Osteuropa, wo schlechte Erfahrungen mit dem Kommunismus nachwirken). Wer hungert, wer unter echter materieller Not leidet, kann oft nur betteln oder kämpfen, um von anderen zu bekommen, was er selbst nicht hat. Wo aber Armut relativ und die Existenzgrundlage der meisten gesichert ist, können andere Motive in den Vordergrund treten – wie der Wunsch, nicht Bittsteller beim Staat, sondern Herr seines eigenen Schicksals zu sein. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, davon war Marx überzeugt. Proletarier wie Bourgeois seien durch ihren Status determiniert, geistige Gefangene ihrer Klassenzugehörigkeit. Man kann die Studie als Bestätigung dieser These lesen: Geht es uns besser, ändern sich unsere Einstellungen. Aber auch als Widerlegung: Dann haben uns Fortschritt und Wohlstand aus den Fesseln des Denkens befreit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2016)

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