Brachte das Vieh den Menschen Ungleichheit?

Als die Landwirtschaft kam und Überschüsse abwarf, wuchs überall die Ungleichheit. Aber in der Neuen Welt erreichte sie ein Plateau, in der Alten stieg sie weiter. Das könnte an Nutztieren gelegen sein.

„Der Erste, der ein Stück Land umzäunte und auf den Gedanken kam zu sagen ,Dies gehört mir', und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, wen ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört!'“

So beschrieb Rousseau 1755 den „Ursprung der Ungleichheit“. Heute ist man nicht viel weiter: Wann kam es zur ungleichen Verteilung von Besitz und Macht, und wie kam es dazu? Konsens herrscht über die Schlüsselrolle der Neolithischen Revolution, in ihr wurden die Menschen sesshaft und Bauern, zuvor hatten sie als Jäger und Sammler von der Hand in den Mund gelebt – und allenfalls Gegenstände wie Waffen in Besitz –, nun warf die Wirtschaft Überschüsse ab, die gehortet werden konnten.

Das klingt plausibel, ist aber schwer zu zeigen, es gibt nur mehrdeutige Zeugen wie Grabbeigaben: Begraben wurden oft ohnehin nur Reiche. Deshalb schlug der italienische Soziologe Corrado Gini vor über 100 Jahren ein anderes Kriterium vor, das der Größe der Häuser, er entwickelte einen später nach ihm benannten Koeffizienten: Der beträgt für Gesellschaften mit völliger Gleichheit 0, am hypothetischen anderen Ende – in denen nur einer ein Haus hätte bzw. alles besitzen würde – wäre er 1.

Gini-Koeffizient: Häusergröße als Maß

Mit dem Instrument hat Tim Kohler (Washington) 63 über die Erde verstreute archäologische Stätten und eine Jäger/Sammler-Gesellschaft analysiert und zunächst überall den Gini-Koeffizienten mit der Landwirtschaft wachsen sehen: Jäger/Sammler haben 0,17, Gesellschaften mit extensiver Landwirtschaft 0,27, solche mit intensiver 0,35. Das war der Durchschnitt, er war erwartet, aber regional kam eine Überraschung: In China und Amerika blieb der Koeffizient auf dem Plateau, in der Alten Welt stieg er weiter, in Babylon auf 0,4, in Ur auf 0,41, in Pompeji auf 0,59. An der Größe der Gesellschaften lag das nicht, an ihrer Organisation auch nicht. Kohler mustert vieles durch, er findet nur einen Unterschied: Nur in der Alten Welt wurden große Tiere domestiziert, dort konnten Ochsen Pflüge und Karren ziehen, und Krieger konnten sich auf Pferde und Kamele setzen.

So bestellten reiche Bauern immer mehr Grund, ärmere wurden landlos, ihnen half es auch nicht, wenn Reiterheere neues Land eroberten: „Der Prozess vergrößerte die Ungleichheit an beiden Enden“, schließt Kohler (Nature 15. 11.). Und er macht sich Sorgen: Manche der heutigen Gesellschaften liegen in der Größenordnung von Pompeji – Griechenland: 0,56, Spanien: 0,58 – andere weit darüber: China: 0,73, USA: 0,85. Gesellschaften mit hohem Gini sind aber oft zusammengebrochen: „Für die USA könnten wir besorgt sein, dass ein zu hoher Gini zu Staatskollaps oder Revolution führen könnte.“

Das mag sein. Ob allerdings wirklich alles mit den Nutztieren begonnen hat, wird in einem Begleitkommentar bezweifelt: Die 63 Stätten böten eine zu dünne Datenbasis, und die Alte Welt habe nicht nur Ochsen zu bieten gehabt, sondern etwa auch Metallurgie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2017)

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